Fliegende Dialogfunken

Bejubelte Premiere im Theatrium: Das Jugendtheaterprojekt „Familien-Gala“ ist ein großer Wurf (LVZ 15.04.2019)

Effektvoll überkünstelt geschminkte Gesichter, starke schauspielerische Leistungen: Jugendtheaterprojekt „Familien-Gala“. Foto: Constanze Burger

Im Theatrium gibt’s jetzt eine Familientherapie. Und zwar eine im Sitcom-Modus. „Familien-Gala“ heißt die Inszenierung, die am Freitag ihre bejubelte Premiere feierte. Ein Lehrstück in episodischen Exempeln über jenen Wahnsinn, der nur aus einem Grund selten als Wahnsinn
wahrgenommen wird: Weil er ziemlich alltäglich ist.

Apfelsinchen mag Arthur Schopenhauer. Also jenen Existenzphilosophen, für den auf der Welt „ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt“ habe – womit der Mensch gemeint ist. Ein Tier, so Schopenhauer, dessen Intelligenz lediglich den Mangel an Instinkt kompensiere. Wenn nun Teenager-Mädchen wie Apfelsinchen (hübsch übellaunig: Laura Beck) freiwillig solche Texte lesen, spricht das zum einen natürlich für deren Intelligenz – und zum anderen wohl für eine gewisse emotionale Schieflage. Die erklärt sich dann auch sofort, wenn Apfelsinchens Mutter (Stresstest nicht nur für ihr Kind: Sophie Winter) in Erscheinung tritt. Eine Psychotherapeutin, die dem
Negativismus der Tochter nicht nur mit dem kategorischen Imperativ, Atemtechnik und esoterisch hauchenden Plattitüden kommt, sondern auch das macht, was hier alle Erwachsenen machen: kategorisch mit sich beschäftigt an ihren Kindern vorbeizureden.

In „Familen-Gala“ platziert Projektleiterin Kathrin Großmann auf vier Spielstegen im Bühnenraum ihr Personal desolater Familien. Allesamt in typgerechten Alltagsklamotten, allesamt mit effektvoll überkünstelt geschminkten Gesichtern (Kostüm- und Maskenwerkstatt unter Leitung Olivier Viehwegs). Damit liefern Wahnsinn und Normalität ein harmonisches Erscheinungsbild für den eben ganz normalen Wahnsinn.
Dessen erste Auffälligkeit: Väter sind in ihm nicht vorhanden. Zweite Auffälligkeit: Eigentlich lieben sich hier alle – aber wie das richtig geht, weiß blöderweise keiner. Was Großmann aus dieser Konstellation herausschlägt, sind erst einmal von Sitcom-Formaten wie „Modern Family“ oder „Türkisch für Anfänger“ inspirierte Dialogfunken im fliegenden Wechsel.

Neben Apfelsinchen üben sich da auch noch Hans (Raubein mit Liebeskummer: Menelik Anton) und Wanda (kokett und einfältig zugleich: Natalie Hammermüller) im Schlagabtausch mit ihren Müttern. Deren eine (Nina Schmidt) verfügt über genug Wertekonservatismus, um eine Umbenennung von Falafel in „Kichererbsenbulette im Weizenlaib“ anzuregen, während die andere (Wanda Blunck) in „aller deutlichen Verstehbarkeit“ aufs Amüsanteste nicht nur über sprachliche Stolpersteine stürzt. Bleibt noch der Bert, der dem mütterlichen Kriegsschauplatz nur scheinbar entflohen ist: Alt genug, um seine große Liebe Benni zu heiraten (hinreißend als exaltiertes Schwulenpaar: Pepe Vogel und Caspar Langer), steht mit der Hochzeit natürlich auch die Mutter ins Haus (im garstigsten Selbstmitleid badend: Juni Grzesiak).

Ganz klar: „Familien-Gala“ ist Familien-Gaga. Aber voll! Dass dabei zu Beginn die Dialogfunken oft nur glimmen statt sprühen, hat nun auch damit zu tun, dass manche Pointen schlicht rein akustisch nicht zu verstehen sind. Ein wenig Sprechcoaching könnte das ändern. Gleichwohl nimmt das Ganze, zumal inder zweiten Hälfte der gut einstündigen Inszenierung, schön Fahrt auf. Wenn die anfänglich separierten Paare miteinander kollidieren und daraus Szenen entstehen, die auch in ihrer Situationskomik dem Affen schön Zucker geben. Und ganz nebenher erzählen, dass das beste Mittel, dem Wahnsinn Herr zu werden, zugleich einer der Gründe für den Wahnsinn ist: die Liebe eben. Und das ist – wie hier bestens zu sehen – tatsächlich nur mit Humor zu ertragen.

Steffen Georgi

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 15.04.2019


Die nächsten Termine der Produktion werden auf www.theatrium-leipzig.de bekannt gegeben.