Wohlschmeckend, ohne süß zu sein: Das Stück „Helden“ überzeugt im Theatrium durch mitreißende Spiellust (LVZ vom 24.06.2019)
Es war eine doppelte Premiere, was da am Samstag im Theatrium zu erleben war. Das letzte Stück vor der Sommerpause – und ein Novum dazu. Erstmals nämlich wagt die Grünauer Bühne ein Inklusionsprojekt. Und das mit einer Geschichte, die mit „Helden“ einen wahrlich programmatischen Titel trägt.
In mehrfacher Hinsicht. Zuerst einmal ist da natürlich die Handlung auf der Bühne. Eine Geister- und Traum-Geschichte, die hier mit Pink Floyd beginnt. Mit dem Uhrengeklingel und -gebimmel, Geläute und Geschrille aus „Time“ und den zwölf dunkel wummernden Akkorden, die darauf folgen. Ganz klar, es ist Geisterstunde. Und dass sich um diese nächtliche Zeit die Kinder Michel, Mira und Lina noch auf der Straße rumtreiben, mag aus pädagogischer Sicht bedenklich sein, verspricht aber zugleich – wie so oft bei pädagogisch Bedenklichem – den Beginn eines tollen Abenteuers.
Gilt es doch, Michels kleinen Bruder Jaro zu finden. Denn auch wenn der ein bezeichnenderweise ständig mit Spider-Man-Mütze durch die Gegend laufender Spinner ist, bleibt er eben doch der kleine Bruder. Nicht zulassen kann man also, dass Jaro einfach so auf einer geheimnisvollen Insel strandete, dass er in einer bizarren Parallelwelt der bizarren Traumwesen verschwundensein soll.
Also: ihm nach!
Friede, Gerechtigkeit, Artenvielfalt – und jetzt?
„Helden“ ist ein Kindertheaterprojekt (Leitung: Sophia Heyn), das mit wenigen, effektvollen Bühnenmitteln diese Parallelwelt in Szene zu setzen versteht. Sparsames Licht sorgt für schummrige Nachtschatten, aus denen wiederum per Projektion die schönsten Nachtschattengewächse aufploppen. Und das gern in Form großer, ziemlich psychedelischer Blüten (Video: Roger Biedermann), aus denen ihrerseits das Personal dieser Traumweltinsel zu erwachsen scheint.
Hexen, Geister, Riesen und „das schrecklichste aller Ungeheuer“. Wesen, die allesamt zugleich Allegorien und als solche gern auch mal mit Namen versehen sind, die sich als Anagramme lesen lassen. Dass aus deren Buchstabenteig dann Wortküchlein wie Friede, Gerechtigkeit und Artenvielfalt gebacken werden, könnte einem zwar doch schnell etwas zuckrig pädagogisch und klebrig didaktisch schmecken – zugleich bricht sich das aber immer wieder schön runter: „Friede, Gerechtigkeit und Artenvielfalt – und wie soll uns das jetzt weiterhelfen?“, fragt da etwa mal der Michel mit Blick auf seine Brudersuche hübsch maulend. Und da reden wir noch gar nicht von der exaltierten, Psychopillen wie auch Biolimonade vertickenden Gesine Pappschnabel, die klarstellt: „Hier geht es um ästhetische Maßstäbe!“
Walter Moers in der Ferne als Pate
Es ist der Geist des Autors und Zeichners Walter Moers, der in solchen Passagen für „Helden“ gleichsam aus der Ferne Pate steht. Fraglos eine gute Paten-Wahl des Projektteams. Und es sind die sieben jungen Darstellerinnen und Darsteller, die allesamt mit dieser Energie, Konzentration und Spiellust agieren, der man sich nur schwer entziehen kann.
„Helden“ sind das dann tatsächlich allesamt. Zwei davon, zwei Mädchen, sitzen im Rollstuhl und nur ganz nebenher sagt eine einmal in einer Szene, dass sie es „so satt“ habe, das Mitleidsgetue. In „Helden“ spielen drei Kinder mit Behinderung mit vier Kindern ohne Behinderung. Und das ganz ohne Getue, als wirke in ihnen tatsächlich jene „wohlschmeckende Realitätspille“, welche die olle Pappschnabel einmal verteilt. Dass „wohlschmeckend“ eben nicht „versüßend“ meint, muss hier unbedingt erwähnt sein. Inklusion kostet Geduld und Mut. Ab der nächsten Spielzeit sind im Theatrium alle Projekte für Menschen mit Behinderung geöffnet.
Steffen Georgi