Im Stück „School of Shame!“ fühlen Tanzlabor und Kollektiv Polymora Inc. im Lofft dem Schamgefühl auf den Zahn (LVZ vom 30.11.2019)
Dass weder Äußerlichkeiten noch körperliche oder geistige Ausstattung wen zum Menschen erster oder zweiter Klasse machen, sollte 2019 längst selbstverständlich sein. Dennoch vergleicht man sich permanent mit anderen, ertappt sich, wie unsicher man ist in der Begegnung mit alltäglich Nicht-Alltäglichem wie Menschen anderer Hautfarbe oder sichtbaren Behinderungen. „Sieh mich an, sag mir, was man sehen kann“, ist hier eine Aufforderung der Performance „School of Shame!“, mit der das Tanzlabor Leipzig zusammen mit der Gruppe Polymora Inc. gerade im Lofft höchst unterhaltsam Körpernormen, Selbst- und Fremdbildern nachspürt.
Um in jeder Hinsicht Barrierefreiheit zu gewähren, wird die Inszenierung zusätzlich audiodeskriptiv und gebärdensprachlich begleitet, ein Novum am Lofft und daher auch eine zusätzliche ästhetische Erfahrung.
Fünf Spielerinnen und Spieler mit unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen stürzen sich zunächst in die bunte Übertreibung eines 80er-Jahre-Musicals. Gerade der offensive Trash wischt schnell die Scheu vorm Schauen weg, Spiegel an der hinteren Bühnenwand zwingen zusätzlich zur Selbstschau. Die Chance das Publikum aktiver einzubeziehen, seine Voyeur-Funktion zu thematisieren, läge auf der Hand. Bis auf gelegentliche Blicke ins Publikum und kurze Saalerhellung bleibt diese jedoch aus oder wird auf Publikumsgespräche nach den Vorstellungen verlagert.
Dafür gelingt den Akteuren auf der Bühne ein bemerkenswerter Mix aus gegenseitiger Achtsamkeit und lockerem Umgang mit angeblich Schambehaftetem. Statt Klischee und Holzhammer bedient man sich in undidaktisch witziger Weise vieler kleiner bunter Zaunpfähle, mit denen zwecks Denkanstoß gewunken wird.
Eitelkeit und Gefallsucht werden in bester Tic-Tac-Toe-Manier einfach weggerappt. In einem Moment robbt die Kleinwüchsige Jana Zöll außerhalb ihres Rollstuhls über die Bühne und reimt dabei genüsslich: „Ich hatte nie eine Wahl, ich bin ein Wal“. Dann kommt es zum erotischen Verführspiel mit der transsexuell agierenden Miriam Welk und schnell wird klar: Jeder Körper hat das Recht auf Sinnlichkeit und kann sinnlich sein.
Die bewegungs- und körperbetonende Performance thematisiert mal mehr, mal weniger direkt: Gerade auch im Tanz sind Körpernormen und Selbstzweifel ein Thema. Auf dem Laufsteg aus Gymnastikmatten zeigt sich schnell, dass Tanz bei weitem nicht nur genormt ästhetische Bewegungsabläufe meint, sondern in diesem Mixed-abled-Ensemble vielerlei Ausdruck haben kann. Immer wieder hört man auch die Stimmen der Performer aus dem Off und schnell wird klar: Es geht nicht nur um augenfälliges Anderssein, Scham steckt in jedem von uns: Mal sind es die Füße, mal die Haare mal die Stimme, derer man sich unsicher ist. Unausgesprochen schwebt über allem die Frage: Wer legt eigentlich die Norm fest, an der wir bewusst oder unbewusst unseren und andere Körper messen?
Karsten Kriesel
Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 30.11.2019
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