„Einmal Avantgarde und zurück“

Hinten Platte, vorne Golf-Resort: Daniel Theiter arbeitet mit seinem am Wochenende auslaufenden Kunstprojekt spielerisch an einer Statusumkehr für Grünau. Foto: André Kempner

Die Künstlerinnen Diana Wesser und Antje Rademacker laden zu ihrer Stadtteilexpedition nach Grünau ein
Über dem Plattenbau balanciert der Kran seinen Ausleger in luftiger Höhe. Und in diesem Viertel Leipzigs, in Grünau, da weiß man das Zeichen nicht mit letzter Sicherheit zu deuten. Bedeutet es Auf- oder Abbau? Grünau ist die große Unbekannte im Boomtown-Spiel Leipzigs. Was als Verheißung und Wohn-Avantgarde begann, schien wenige Jahre nach der Wende wieder hoffnungslos veraltet. Mit dem Wegzug der Menschen wurde die Platte geschliffen. Das Image kippte vom Wohnparadies zum sozialen Brennpunkt. Und heute, im 40. Jahr des Stadtteils? Wie sehen die Bewohner ihre Heimat?

Das wollen die Leipziger Künstlerinnen Diana Wesser und Antje Rademacker wissen. Mit ihren Stadtteilexpeditionen erforschen sie lokale Milieus, nähern sich den Bewohnern und suchen nach Geschichte und Geschichten, nach Stimmungen und Erwartungen. Am Ende ihrer Aufenthalte steht immer ein temporärer Stadtplan, mit dem Interessierte überraschende Seiten der Gegend kennenlernen können.

Dabei beschäftigen sie sich gern mit Vorurteilen, die den Stadtvierteln anhaften. „Uns geht es immer um Erwartungen und die Frage, ob sie sich erfüllen“, sagt Antje Rademacker. „Mein Vorurteil war: Grünau ist trist. Jetzt sehe ich, wie grün es ist und wie viel Raum autofrei ist.“ Auch die erwartete Anonymität finden die Künstlerinnen nicht bestätigt. „Viel Leben findet draußen statt“, sagt Diana Wesser und zeigt auf die Menschen, die in Grüppchen zusammensitzen.

Ihr Quartier haben die Leipziger Künstlerinnen, die zuletzt den Leipziger Osten erforschten, im Grünauer Stadtteilladen in der Stuttgarter Allee 19-21 aufgeschlagen. Mit Kaffee sitzen sie vor der Tür und laden Passanten zu Gesprächen ein. „Ich kann für Grünau nur schwärmen“ sagt Eva-Marita Weiß. Die 72-Jährige liebt ihren Ausblick aus dem 14. Stock, geht zum Sportverein, besucht Kulturveranstaltungen. Grünau sei altersgerecht, ein Viertel der kurzen Wege.

Wer sich ein wenig Zeit nimmt, hört unterschiedliche Sichtweisen. Ein Passant setzt sich kurz und ärgert sich über nächtlichen Lärm. Vor allem jugendliche Flüchtlinge seien daran Schuld. Er habe Sorge, dass hier bald „eine zweite Eisenbahnstraße“ entstehe. Womit es prompt wieder um Vorurteile geht: Auch die Gegend der Eisenbahnstraße haben Wesser und Rademacker schon unter die Lupe genommen – und gesehen, wie sehr äußere Zuschreibung und Lebensgefühl der Bewohner auseinanderklaffen.

Christel Lehmann hat ein Buch mitgebracht. „Ein Stadtteil hat Jubiläum. Grünau ist unser Zuhause“ heißt es. Grünauer haben darin über ihr Viertel geschrieben. Lehmann erinnert als Autorin an die Außenstelle des KZ Buchenwald auf dem Gebiet des heutigen Grünau in den letzten Kriegsjahren. Sie hat auch über die Meyerschen Häuser geschrieben, über den Verleger Herrmann Julius Meyer, ein Pionier des sozialen Wohnungsbaus im 19. Jahrhundert.

Heute (28.07., 14 bis 17 Uhr) kommen Weser und Rademacker nochmals mit Grünauern ins Gespräch. Aus allen Informationen speist sich dann der temporäre Stadtplan, den die Künstlerinnen für Samstag mit voraussichtlich zwölf Stationen ausarbeiten. Ab 14 Uhr wird er am Stadtteilladen verteilt und weist den Weg in eine Wohnung der Meyerschen Häuser, zur Aussicht aus einer Privatwohnung im Plattenbau, zu persönlichen Gesprächen mit Grünauern, in den Kolonadengarten oder ins Grünau Golf Resort (GGR).

Tatsächlich steht in der Alten Salzstraße Daniel Theiter in Golfmontur auf dem verbrannten Rasen und schlägt Bälle vor einem Miniatur-Clubhaus aus Holz. Theiter ist das letzte Überbleibsel von Raster Beton. Unter diesem Namen haben fünf Künstler Grünau bespielt. Theiters Golfclub mit Fahnen in FDJ-Optik ist ein Spiel mit Images. Grünau habe eine Status-Umkehr von einer bevorzugten Wohnlage in einen sozialen Brennpunkt erfahren, sagt Theiter. Die Idee sei gewesen, über etwas Elitäres wie ein Golf-Resort die Exklusivität zurückzuholen. Zum spielerischen Ansatz gehören deshalb harte Regeln: Mitglied können nur Grünauer werden – oder Auswärtige, die von einem Grünauer vorgeschlagen und zwei Clubmitgliedern bestätigt werden. 90 Mitglieder hat Theiter gesammelt. Am Samstag ist Finissage, dann schließt das Projekt. Vielen Kindern und Jugendlichen, die schon spontan beim Aufbau halfen, wird das GGR fehlen. „Manchmal fragt man sich, ob man noch Künstler ist oder schon Sozialarbeiter“, lacht er. Dann taucht ein Grundschüler auf. Die Stirn gerunzelt fragt er höflich: „Warum müsst ihr hier einen Golfplatz bauen? Wir können nicht mehr Fußball spielen.“

Dimo Riess

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 28.07.2016


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