„Vom Paradies erzählen“

Antje Stumpe legt Liebeserklärung an Grünau als Buch vor – Stadtleben Süd vom 15.07.2011:

Antje Stumpe suchte das Paradies – und wurde fündig. Die Studentin für Fotografie und Kommunikationsdesign an der halleschen Burg Giebichenstein kehrte für ihre Diplomarbeit an den Ort ihrer Kindheit zurück. Im Leipziger Stadtteil Grünau, der in diesem Jahr seinen 35. Geburtstag feiert, sprach sie mit Einwohnern über ihre ganz persönliche Beziehung zum Viertel und über private Rückzugsräume. Stumpe nahm sich viel Zeit und trug auf diese Weise nicht nur Einblicke in so eigentlich nicht erwartete kleine Idyllen zusammen, sondern ließ auch die Einwohner zu Wort kommen. „Mein ganz persönliches Paradies ist mein Balkon. Ich verbringe im Sommer viel Zeit auf ihm. Am Abend genieße ich die Stille und die vielen Lichter“, berichtet Ingrid Hillmann von ihrem Refugium im privaten Grün, der sich mitten im Plattenbauquartier befindet. Die Bilder zeigen deutlich: Aus Grünau lässt sich etwas machen, und das Wohnen im nach Standardmaßen errichteten Block muss beileibe kein Einheitsbrei sein. Von geradezu überbordender Fülle ist beispielsweise der Vorgarten von Sigrid Wolf. Im Sommer ein richtiger Kleingarten, und zur Weihnachtszeit ein Zauber aus Licht und Schnee. „Es hat sich super angefühlt, einen Schlüssel zum Paradies zu haben“, sagt sie.
Stumpe führte ausführliche Interviews mit Grünauern der ersten Stunde und macht auf diese Weise nachvollziehbar, welches Glück vor mehr als 30 Jahren der Bezug einer Grünauer Neubauwohnung war. „Das war wie ein Fünfer im Lotto“, erinnert sich Inge Gießmann. „Ich habe mich damals gefühlt wie ein kleiner König.“
Das Buch der 1979 in Leipzig geborenen Autorin ist zweigeteilt: Es enthält zum einen zahlreiche Interviews und Einblicke in Lebenswelten, zum anderen so genannte Holgagrafien. Sie entstanden mit einer billigen Holga-Mittelformatkamera, bei der Unschärfen und weitere Fehler bewusst als fotografisches Gestaltungsmittel eingesetzt werden. „Die Bilder sprechen aus meiner Seele. Sie erheben keinen Anspruch auf Schärfe, auf Objektivität. Sie sind verträumt, poetisch, farbverschoben, unscharf, teils dunkel, geheimnisvoll. Es sind Naturkompositionen, latent im Hintergrund ist der Plattenbau zu erahnen“, sagt die Mutter zweier Kinder. Ihr Fotoprofessor habe während der Entstehung des Buches einen prägenden Satz gesagt: „Antje, Du kannst nicht fotografieren, was es nicht mehr gibt.“ Ihr gehe es bei diesen Aufnahmen um Heimat, welche zum Teil verloren ist, weil entsprechende Gebäude und Wohnblocks nicht mehr existieren. „Einige finden, dass es mir mit dieser Ästhetik und der Wahl des Mediums trotzdem gelungen ist, eine gewisse Achtzigerjahre-Erinnerung zu suggerieren.“ Es sei nicht ganz einfach, sich in die Holgagrafien hineinzusehen, aber bei manchen Musikstücken braucht man auch mehrere Anläufe. Und dann sei man fasziniert.
Für Freunde bibliophiler Ausgaben gibt es das Buch auch in einer auf 100 Stück limitierten Sammleredition. „Die Suche nach einer geeigneten Pappe hat Wochen gedauert, aber ich wurde belohnt mit einem besonders schönen, glatten und vor allen Dingen robusten Material, welches gegen das Licht gehalten sogar schimmert“, zeigt sich Stumpe begeistert. „Die rohe Pappe habe ich als Gestaltungsmittel eingesetzt, um eine Analogie zur nackten Betonplatte herzustellen.“ Die Pappe ist geprägt und mit einem originalen Foto auf dem Deckel eingesetzt. Die beiden Bildstrecken heben sich durch verschiedene Papierarten voneinander ab. Diese Edition kann direkt bei ihr per E-Mail unter antje.stumpe@gmx.de bestellt werden.
Bert Endruszeit


Antje Stumpe: „Paradies lost? Auf der Suche nach dem Paradies im Plattenbau“
Pro Leipzig, 144 Seiten, 17 Euro, ISBN 978-3-936508-66-6.
Die handwerklich gebundene Vorzugsausgabe mit einem signierten Fine Art Print kostet 49 Euro.


Quelle: Kleine Leipziger Volkszeitung (Stadtleben) Süd vom 15.07.2011