„Vergessene Geschichte unter lauschigen Linden“


Über das ehemaligen KZ-Außenlager für ungarische jüdische Zwangsarbeiterinnen in Schönau

Beitrag der Leipziger Internet Zeitung vom 22.10.2011:

Am 9. November wird in Leipzig wieder an die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden durch das NS-Regime gedacht. An einem Ort findet sich bislang jedoch kein Hinweis auf die Verbrechen der Nationalsozialisten: am ehemaligen KZ-Außenlager für ungarische jüdische Zwangsarbeiterinnen in Schönau.

In Grünau schwört man auf das viele Grün im Stadtbezirk. Eine dieser grünen Stellen ist die Parkallee im Wohnkomplex 2. Den einen ist sie ein idyllischer Spazierweg zum Schönauer Park, anderen der tägliche Schulweg. Nahe der LVB-Haltestelle ?Parkallee? befindet sich ein Informationsladen der Wohnungsbaugenossenschaft Kontakt. Ein Teil des mit Linden besetzten Grüns ist Hundewiese. Auch ein etwas derangiertes Schild ?Naturschutzgebiet? findet sich.

?Hinweise auf das 1944 ? 1945 bestehende Frauen-Außenlager der ATG oder eine Gedenktafel gibt es nicht?, schloss Irmgard Seidel 2006 ihren Beitrag über das Frauen-KZ Schönau für das neunbändige Standardwerk ?Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager?. Dieses Lager lag inmitten der idyllischen Lindenallee, wie die Straße damals hieß. Zwischen den Bäumen standen Holzbaracken. Ein Stacheldrahtzaum war entlang der Baumreihen gespannt.

Heimatforscher nahmen sich des Themas mehrfach an. In der Broschüre ?Rund um Grünau? von Wolfgang Grundmann aus dem Jahre 1986 wird das Lager erwähnt. Auch der Grünauer Klaus Hofmann forschte in den 1980er Jahren zu dem Thema und mühte sich um eine Gedenktafel. Im Sommer 2010 widmete der Journalist Bert Endruszeit in der Lokalpresse dem vergessenen Frauen-KZ eine Artikelserie. Doch einen Anstoß für einen Erinnerungsort lösten all diese Bemühungen bislang nicht aus.

Zwangsarbeit in Leipzigs Rüstungsbetrieben

Die Industriestadt Leipzig war eines der Zentren der nationalsozialistischen Rüstungsproduktion. Im ?Kaiser-Grund? in Großzschocher fertigte die Allgemeine Transportanlagen-Gesellschaft ATG während des Zweiten Weltkrieges keine Förderanlagen mehr, sondern Flugzeuge. Im ?totalen Krieg? der Nazis basiert die Rüstungsproduktion zu wesentlichen Teilen auf der Ausbeutung von Zwangsarbeitern, die oftmals KZ-Häftlinge waren.

So kamen am 22. August 1944 500 ungarische Jüdinnen in Schönau an. Überwiegend handelte es sich um junge Frauen der Geburtsjahrgänge 1920 bis 1929, wie Irmgard Seidel herausgefunden hat. Nach den Rechercheergebnissen der Mitarbeiterin der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora waren die jungen Frauen zuvor fast ausschließlich im KZ Stutthof bei Danzig interniert. Die etwa 750.000-köpfige jüdische Gemeinde in Ungarn war bis zum Frühjahr 1944 vor der Vernichtungsmaschinerie der Nazis geschützt. Doch dann gaben die ungarischen Nazi-Satelliten dem Druck aus Berlin nach. ?Ungarn war das einzige Land, in dem die Täter bereits zu Beginn ihrer Tat wussten, dass der Krieg verloren war?, merkte der Historiker Raul Hilberg in seinem Standardwerk ?Die Vernichtung der europäischen Juden? dazu an.

Doch auch die Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft bewahrte nicht vor dem Tod in den Vernichtungslagern. Die historische Forschung liefert immer wieder Beispiele über Kontroversen um den NS-internen Zielkonflikt zwischen der maximalen wirtschaftlichen Ausbeutung jüdischer Zwangsarbeiter und deren schneller Vernichtung in den als Todesfabriken arbeitenden KZ. Wie Irmgard Seidel schreibt, lehnte die ATG-Firmenleitung im August 1944 fünf junge Ungarinnen wegen vermeintlicher Arbeitsunfähigkeit ab. Sie mussten nach Stutthof in den sicheren Tod zurückkehren, die SS schickte von dort Ersatz. Für den 17. November 1944 ist die Deportation von zwei Frauen nach Stutthof überliefert, die den Arbeitsanforderungen nicht mehr gewachsen waren. Noch am 27. Januar 1945 wurden vier Frauen nach Bergen-Belsen abtransportiert, darunter zwei Mütter mit Neugeborenen.

Für die SS war die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen ein einträgliches Geschäft. Allein im September 1944 schickten die Schönauer Wächter eine Abrechnung über 11.572 ?Tagwerke? an ihre vorgesetzte Dienststelle im KZ Buchenwald. Das entsprach einer Arbeitsleistung der Frauen von 138.504 Stunden. Pro ?Tagwerk? überwies die ATG vier Reichsmark an die SS. Der letzte überlieferte Arbeitsnachweis des Lagers Schönau stammt vom 31. März 1945 und führt zu diesem Zeitpunkt 315 weibliche Häftlinge an. Zuvor waren am 19. Februar 1945 180 Frauen nach Bernburg ?überstellt? worden, wie es im Nazi-Jargon hieß.

Schilderungen über das Lager Schönau finden sich in den Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden. So schrieb Judith Magyar Isaacson in ihrem Buch ?Befreiung in Leipzig? ihre ?Erinnerungen einer ungarischen Jüdin? nieder. Vor den von Westen her vorstoßenden amerikanischen Truppen waren die Frauen aus einem Lager aus Hessisch-Lichtenau Anfang April 1945 nach Leipzig verlegt worden. Judith Magyar Isaacson nennt das ?Lager Schönau am Stadtrand von Leipzig, einem riesengroßen Kriegsgefangenenlager, von dem aus man einen weiten Blick über die Stadt hatte?. Neben dem Frauen-Lager mit dem ?elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun? hätten Baracken für französische, tschechische und niederländische Kriegsgefangene gestanden.

Isaacson berichtet von den Luftangriffen auf Leipzig und davon, dass der ?Geschützdonner im Westen anschwoll?. Gemeinsam mit ihrer Mutter und sieben weiteren Leidensgenossinnen überlebt sie die letzten Tage in Leipzig, bis am 19. April 1945 endlich die Amerikaner in der Messestadt eintreffen. Auch von der Zerstörung der Lager durch die SS ist die Rede. Das Gros der Schönauer Häftlinge wurde nur wenige Tage zuvor auf einem Fußmarsch in Richtung Osten getrieben, wo die Überlebenden dieses Todesmarsches bei Strehla an der Elbe befreit werden konnten.

Das Mädchen Suranyi

So finden sich in Leipzig selbst so gut wie keine Spuren von den Insassen und Opfern des Frauen-KZ Schönau. Denn Teil des NS-Vernichtungsplans für die europäischen Juden war es eben auch, ihnen eine letzte individuelle Ruhestätte zu verwehren. Damit sieht sich auch Dr. Günter Schmidt konfrontiert, der sich in Leipzig seit Jahren gemeinsam mit anderen um das Andenken der NS-Opfer kümmert. In mühevoller Detailarbeit vervollständigen sie das Gedenk- und Totenbuch der Leipziger Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 bis 1945. Hier finden sich mehrere Hinweise auf unbekannte Tote der Grünauer bzw. Schönauer Lager, die in Leipzig bestattet wurden. Doch Schmidt geht davon aus, dass es sich hierbei eher um Todesopfer anderer, benachbarter Lager handelt. Diese sind nach der Beendigung des zweiten Weltkrieges als Unbekannte, das heißt nicht identifizierte Tote, aus- und umgebettet worden.

Der Eintrag ?SS-Arbeitslager Leipzig-Schönau des KZ Buchenwald? findet sich nur bei dem Mädchen mit dem Familiennamen Suranyi. Als Geburtsdatum und Sterbedatum der ungarischen Jüdin ist jeweils der 11. Januar 1945 im Gedenkbuch vermerkt. Ein Vorname ist nicht eingetragen. ?Am 11. Januar 1945 wurde im Lager ein Mädchen tot geboren?, schreibt dazu Irmgard Seidel, ?vier Tage später erfolgte die Einäscherung im Krematorium des Südfriedhofes Leipzig.? Die Grabstätte befindet sich heute auf dem Ostfriedhof.

Günter Schmidt ist sehr an einer Erinnerung an die Insassen des KZ Schönau gelegen. Doch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., in dem er ehrenamtlich im Stadtverband Leipzig engagiert ist, kann nur aktiv werden, wenn Grabstätten vorhanden sind. Dazu gibt es für Schönau keine Hinweise. Gleichwohl stünde er einer örtlichen Initiative, die sich für eine Gedenktafel in der Parkallee einsetzt, beratend zur Seite.

Gernot Borriss

Quelle: Leipziger Internet Zeitung vom 21.10.2011