„Tolle Satire auf Fernsehshows“

Theatrium-Premiere
Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 22.04.2013:

Es gibt viel zu tun vor dem Tod. Den besten Schokokuchen der Welt backen, das sollte drin sein, findet Charlie. Paula möchte der Freiheitsstatue einen Bart ankleben. Konstantin will einmal in einer Gefängniszelle, Sophie mit einem Rockstar nächtigen, Felix ein Konzeptalbum und Sarah einen Techno-Song komponieren. Bernices Ziel ist ein Bällebad für Erwachsene, Ferdinand hat vor, diese Show zu gewinnen.
Das fiktive TV-Spiel, das solche Ideen in Punkte ummünzt, heißt „Alles oder ich“ – genauso wie das Stück, das Regisseurin Almut Koch und 18 jugendliche Darsteller entwickelt und mit dem sie Freitagabend im Theatrium Grünau eine euphorisch bejubelte Premiere gefeiert haben. Soll noch einer pauschal wettern, Fernsehglotzen verblöde den Nachwuchs. Hier verwandelt vielmehr eine Gruppe ihre offenbar enorme Medienkompetenz anderthalb Bühnenstunden lang in eine Castingshow-Kritik, die ideenreich, gut gespielt und äußerst unterhaltsam ist.
Denn von der Mischung aus übertrieben guter Laune und moralinsaurer Überheblichkeit, mit der die aufgetakelten Moderatoren Hin (Paul Hämmerling) und Her (Lisa Hoegel) ihre 13 Kandidaten behandeln, bis hin zum Versprechen, dass die Show deren angeblich langweiliges Leben auf den Kopf stellen kann, stammt alles direkt aus der TV-Wirklichkeit. Und wie Klum oder Bohlen simuliert auch die „künstlich intelligente Maschine K.I.M.“ (Marlene Braun per Videoeinspielung), die mit Rat zur Seite stehen soll, ihre Hilfe eher, als dass sie sie gibt.
Anders als im realexistierenden Show-Gewese thematisiert die Inszenierung aber ebenso, was es eigentlich mit sich bringt, ein neues Leben zu gewinnen: ein altes zu verlieren beispielsweise. So erfüllen Hin und Her zwar Paulas (Paula Kuhn) Wunsch einer endlosen Weltreise, nehmen ihr damit aber die beste Freundin. Sarah (Sarah Winter) spricht zwar nicht mehr zu schnell, mutiert jedoch zur Langweilerin. Und Charlie (Charlotte Glück) büßt mit ihrer Eifersucht sogleich ihre Fähigkeit zu lieben ein.
Als Laura (Laura Körner) sich im Ratespiel „1, 2 oder 3“ anpasst, um nicht mehr alleine zu stehen, kommentiert ein nur fürs Publikum sichtbarer Narr (Natalie Mnuschkin) sarkastisch, dass der freie Wille eh nur belastend sei. „Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht.“ Ist da nicht Lui (Luise Heller), die bei „Wahrheit oder Pflicht“ kneift und „an ihr altes Leben verloren“ wird, eher eine Gewinnerin? Und was ist mit Konstantin (Konstantin Schönherr)? Er schlägt die Option aus, Engelchen (Sophie Weber) und Teufelchen (Mafalda Gundermann) aus seinem Kopf zu verbannen, um entscheidungsfreudiger zu werden – was jammerschade wäre, schon weil das Trio so wunderbar spielt.
Ins Finale gelangt keiner von ihnen, ebenso wenig der partyhungrige Publikumsliebling Pascal (Pascal Müller). Sondern die nervöse Bernice (Bernice Käßler) und wie erwünscht Ferdinand (Ferdinand Probst). Die Entscheidung zögern Hin und Her so künstlich und unangenehm hinaus, wie es im wahren TV-Leben nur Marco Schreyl vermag. Die schwerste Aufgabe steht aber erst dem Sieger bevor: Um ein neuer Mensch zu werden, muss er sich selbst überwinden – in einem Ringkampf.

Mathias Wöbking

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 22.04.2013

„Alles oder ich“, wieder am Samstag, 20 Uhr, Theatrium (Alte Salzstraße 59), ab 13 Jahre, Karten für 7,50/4,50 Euro unter Tel. 03419413640. Weitere Termine unter www.theatrium-leipzig.de