„Plattenmusik“

Erste Leipziger Tastentage: Villa und Komm-Haus laden an 10 Klavieren zum Spielen im Freien ein – LVZ 30.08.17

Grünau ist zwar Leipzigs bevölkerungsreichster, aber nicht gerade reichster Stadtteil. „Hier hat so gut wie niemand ein Klavier zu Hause – schon wegen der Hellhörigkeit der Blockbauten“, vermutet Patrick Seifried. Von Samstag an darf man im Plattenbau-Viertel dennoch neun Tage lang ausgiebig klimpern: Das Soziokulturzentrum Die Villa und das städtische Kulturzentrum Komm-Haus organisieren die ersten „Leipziger Tastentage“ und stellen dafür bis 10. September zehn Klaviere auf den Gehwegen, Grünflächen und Plätzen zwischen Kulkwitzer See und Karl-Heine-Straße auf.


Spontanes Klavierkonzert: Im Juni hat das Prinzip der Tastentage auf der Sachsenbrücke bereits funktioniert.


Seifried kümmert sich als Sozialarbeiter im Auftrag der Villa um soziokulturelle und Integrationsprojekte in Grünau. Seinen Schreibtisch hat er im Komm-Haus – wo wiederum Oliver Kobe mit Kulturveranstaltungen befasst ist. Von einem „niedrigschwelligen Angebot“, spricht Kobe. „Ein Klavier ist ein imposantes Instrument. Aber wir holen es von seinem hohen Podest.“ Die Tastentage sollen die Grenze zwischen Musikern und Zuhörern zum Fließen bringen.
Bei einer Art Generalprobe habe das im Juni bereits recht gut geklappt, berichten die beiden. Bei der Fête de la musique, bei der jährlich in der ganzen Stadt eintrittsfreie Konzerte steigen, haben sie einen Flügel auf einen Hänger geladen und zunächst an der Moritzbastei zum Spielen eingeladen. Dann, auf dem Augustusplatz, tobte sich eine frisch nach Leipzig gezogene Musikstudentin aus, deren Klavier zu dem Zeitpunkt noch in Rostock lagerte. „Und eine Oma baute sich aus ihren Einkäufen eine Sitzgelegenheit und lauschte“, erzählt Kobe. Zu einer großen Piano-Party habe sich das Ganze schließlich auf der Sachsenbrücke im Clara-Zetkin-Park gesteigert. „Je später es wurde, desto mehr trauten sich“, erinnert sich Seifried. „Es war erstaunlich, wie viele Leute da richtig gut spielen konnten.“
Die Idee, Klaviere ins Freie zu karren und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, haben drei Kanada-Urlauberinnen aus Toronto mitgebracht, wo ein Franchisenehmer alle paar Jahre einen Ableger des weltweiten Klavierfests „Play Me, I’m Yours“ ausrichtet. Bei einem Budget im niederen zweistelligen Bereich – mit Zuschüssen der Sächsischen Kulturstiftung und des Leipziger Kulturamts – stemmen Villa und Komm-Haus ihre Tastentage jedoch ohne die Play-Me-Marke, die ein britischer Künstler gegen eine Gebühr überlässt.
Bei der Beschaffung guter gebrauchter Instrumente zu angemessenen Preisen haben sich die Festivalorganisatoren auf die Leidenschaft und Expertise des Zeitzer Klavierstimmers Daniel Falke verlassen. „Es ist ein Glücksfall, dass er auf uns aufmerksam geworden ist und dabei sein möchte“, sagt Seifried. Aber nicht nur für Falke – offenbar ist es für viele Menschen eine Herzensangelegenheit, in den nächsten Tage in Grünau und angrenzenden Vierteln in die Tasten zu hauen.
Wenige Wochen vor Veröffentlichung ihres zweiten Albums eröffnet June Cocó den Reigen am Samstag auf dem Grünauer Markt am Allee-Center. „Ich hoffe, ihr kommt vorbei und spielt mit uns“, lässt sie per Video ausrichten. Im weiteren Verlauf werden unter anderem Sebastian Krumbiegel, Peter Piek und Bernd Reiher an verschiedenen Standorten zum Spiel erwartet. Auch Seifried selbst, in den 90ern als „Patrick 23“ ein Aushängeschild der Leipziger Hiphop-Szene, erwägt eine Freestyle-Einlage zur Klavierbegleitung von Grünfeuer-Sänger Dario Klimke. „Schraubenyeti“ Martin Lischke rollt sein Instrument auch sonst auf Rollen durch die Lande und spielt mit Vorliebe draußen: Er passt also perfekt zu den Tastentagen. Sein Auftritt am Lindenauer Hafen soll zu einem regelrechten Hafen-Festival ausarten.
Sogar das Gewandhausorchester, das in der neuen Spielzeit ohnehin mehrmals in Grünau gastiert, schickt eine Pianistin zu den Tastentagen: Das Kontingent von Hazel Behs „Zwergenkonzert“ am Montag ist allerdings bereits ausgeschöpft. Ebenso ausgebucht sind mehrere Workshops, die Astrid Wappler und Madlen Sperl – zwei der besagten Kanada-Urlauberinnen – am sogenannten „Basismobil“ am Grünauer Markt geben. Vor allem Kindergartengruppen und Schulklassen aus Grünau haben sich angemeldet, so Seifried. Kurzentschlossenen stehen diese „pädagogischen Klavierspiele“ an beiden Wochenenden ohne Anmeldung offen.
Eine breite Teilnahme ist für die Organisatoren von zentraler Bedeutung. „Die Künstler und Könner stehen nicht im Vordergrund“, betont Seifried. „Unser Ziel ist, dass gerade auch die Tasteninstrument-Unerfahrenen und spontan Interessierten aller Bevölkerungsschichten die Chance erhalten, mit diesem sonst gehobenen Musikinstrument in Berührung zu kommen“, sagt er. „Dass sie sich in Improvisationen austoben und vielleicht sogar auf den Geschmack kommen.“
„Wir wollen die Leute zusammenbringen“, erklärt Kobe. Menschen aus Grünau und aus anderen Stadtteilen, die vielleicht Vorurteile gegen die Platte hegen. „Kein anderes Viertel hat so viel Raum für Fußgänger, keines würde sich besser für die Tastentage eignen“, ergänzt Seifried. Grünau sperrt den Straßenverkehr weitgehend aus – ideale Bedingungen, insbesondere für Familien mit kleinen Kindern.
Zwar wird es auf absehbare Zeit wohl dabei bleiben, dass „Grünau Leipzigs größter Stadtteil mit dem kleinsten Kulturangebot ist“, wie es Kobe ausdrückt. Aber zumindest in den kommenden neun Tagen dürfte man vor Ort einen anderen Eindruck gewinnen.

Mathias Wöbking


Leipziger Tastentage

Wann: 2. bis 10. September, täglich ab 9 Uhr
Wo:: Grünauer Markt, Nachbarschaftsgarten, KiJu, Komm-Haus, Kulkwitzer See (zwei Klaviere), Amphi-Theater, Schönauer Park, Lindenauer Hafen, Karl- Heine-Straße
Weitere Infos: www.wir-sind-gruenau.de


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