„Leipziger Konferenz: 10-Thesen-Papier zu den Zukunftschancen ostdeutscher Großwohnsiedlungen“

Ergebnisse der Leipziger Konferenz – Beitrag der Leipziger Internet Zeitung vom 27.06.2011:

Die eigentliche Arbeit haben die Forscher schon im März bei einer Tagung in Leipzig geleistet. Doch öffentlichkeitswirksam präsentiert haben Forscher und Stadtplaner das Thesenpapier „Zukunftschancen ostdeutscher Großwohnsiedlungen“ erst am 17. Juni auf einer Tagung in Berlin-Hellersdorf.

Hellersdorf ist mit 73.000 Einwohnern noch immer eines der größten Neubaugebiete aus DDR-Zeiten. Zum Vergleich: Leipzigs größtes Neubaugebiet – Grünau – hat heute noch etwa 44.000 Einwohner. Die Probleme sind freilich ganz ähnliche. Und das nicht nur im Osten Deutschlands, auch wenn sich die Debatte in den letzten Jahren immer wieder auf den Rückbau und die möglichen Chancen ostdeutscher Großwohnsiedlungen konzentrierte.

Mit einem 10-Punkte-Positionspapier wenden sich nun die Forscher und Stadtplaner, die am 17. Juni in Berlin-Hellersdorf tagten, an die Politik. Sie rufen in ihrem Appell dazu auf, die Entwicklungschancen von ostdeutschen Großwohnsiedlungen als Bestandteil der Städte wieder stärker in das Blickfeld zu rücken.

Mit rund einer Million Wohnungen machen Großwohnsiedlungen derzeit im Osten Deutschlands etwa ein Sechstel des gesamten Wohnungsbestandes aus.

Was das im März in Leipzig entwickelte Positionspapier besonders betont, fasst im Grunde auch viele Erkenntnisse zusammen, die die Leipziger Stadtplanung im Umgang mit der Entwicklung von Grünau gesammelt hat. Die UfZ-Forscherin Dr. Sigrun Kabisch, die die Langzeitstudie zur Bevölkerungsentwicklung in Grünau betreut, gehört zu den Mitunterzeichnern des „White Papers“.

Und auch ihre Studie zeigte ja: Die Entwicklungspfade der Siedlungen sind weit heterogener als dies in der öffentlichen Debatte wahrgenommen wird. Gerade vor dem Hintergrund der energiepolitischen Ziele und der aktuellen Diskussion um die Förderung der Gebäudesanierung sei es wichtig, die jeweiligen Chancen dieser Stadtgebiete aufzugreifen. Die Wissenschaft und die Politik müssten sich den sehr komplexen Fragen stellen, die die Zukunftschancen der ostdeutschen Großwohnsiedlungen aufwerfen, statt sich einseitig auf die Steuerung und Begleitung des Stadtumbaus mit Fokus auf den Abriss von Wohnbauten zu begrenzen.

Diese Forderung wird in dem Positionspapier ?Zukunftschancen ostdeutscher Großwohnsiedlungen – Vorrangiger Forschungsbedarf“ in 10 Thesen präzisiert. Entstanden ist dieses Papier als Ergebnis der Tagung am 4. März 2011 in Leipzig, die vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und dem Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) veranstaltet wurde.

Die 10 Thesen umfassen demographische, soziale, wohnungswirtschaftliche, infrastrukturelle und politische Aspekte und fordern deren integrierte, komplexe Betrachtung. Die Unterzeichner rufen zu einer sachlichen Bestandsaufnahme auf, um langfristig eine nachhaltige Entwicklung der Städte mit ihrem unterschiedlichen Wohnungsbestand zu unterstützen. ?Hierfür bieten wir unsere Expertise an, um einen breiten gesellschaftlichen Dialog zum Thema zu befördern.“

Dabei erweisen sich die Großsiedlungen als „Quartiere auf Zeit“, die zwar dauerhaft an Bevölkerung verlieren, aber gleichzeitig auch Stabilisierungsprozesse durchlaufen, denn altangestammte Bewohner bleiben gern in diesen Quartieren – was eben nicht nur Fragen des Rückbaus aufwirft, sondern auch der zur Anpassung der Infrastrukturen an eine alternde Bevölkerung. Gleichzeitig sind – da die Mietpreise in diesen Quartieren meist niedriger liegen als in Kernstädten – Segregationsprozesse erkennbar: Die Siedlungen sind in Teilen bevorzugtes Zuzugsgebiet für einkommensschwache Familien.

Aber auch hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen diesen Wohnquartieren – denn Großwohnsiedlungen in städtischen Randlagen haben deutlich anders gewichtete Problemlagen als solche mitten im Stadtkerngebiet, die es in Leipzig ja ebenfalls gibt. Nur redet darüber niemand, weil diese Wohnblöcke – ähnlich wie die Gründerzeitquartiere – keine Leerstandsprobleme haben.

Umso wichtiger ist es natürlich für die Akteure, frühzeitig zu erkennen, welche Teile der Großsiedlungen sich vorerst stabilisieren – wo also auch in Infrastrukturen und in energetische Sanierung investiert werden muss. Wie schwierig es ist, rechtzeitig Rückbaugebiete zu definieren, hat ja die Leipziger Diskussion um Grünau und dessen künftigen stabilen Kern gezeigt. Nicht nur die Bewohner, die keineswegs umziehen wollen, wenn sich die Planer das wünschen, spielen dabei eine Rolle, sondern auch die zunehmende Aufsplitterung der Eigentumsverhältnisse.

Ein Fakt, der auch eine Kehrseite hat, die in der deutschen Wohnungspolitik selten wahrgenommen wird. Das „White Paper“ spricht es in These Nummer 8 an: „Die Bedeutung des sozial orientierten Wohnungsbaus bereits seit den 1920er Jahren für die soziale Wohnraumversorgung sowie die geringe Krisenanfälligkeit des deutschen Wohnungsmarktes hat sich aktuell in der internationalen Immobilienkrise gezeigt: während unsymmetrische, nahezu ausschließlich auf privates Einzeleigentum setzende Marktstrukturen in den USA und anderen Ländern zum Auslöser der Krise wurden, hat sich die ausbalancierte Marktstruktur in Deutschland mit ihren unterschiedlichen Marktsegmenten als volkswirtschaftlicher und sozialer Stabilisator erwiesen.“

Und das nicht nur in Ostdeutschland. Auch in westdeutschen Großstädten spielen solche Großsiedlungen eine wichtige Rolle in der stabilen und sozialverträglichen Versorgung mit Wohnraum.

Auf der Fachkonferenz „Große Wohnsiedlungen – Wohnen mit Zukunft“ des Kompetenzzentrums Großsiedlungen e.V. in Berlin-Hellersdorf wurde das Thesenpapier am 17. Juni über 100 Experten aus Stadtpolitik und Wohnungswirtschaft vorgestellt.

Ralf Julke

Quelle: Leipziger Internet Zeitung www.l-iz.de vom 27.06.2011


Weitere Informationen:

„WhitePaper – Zukunftschancen ostdeutscher Großwohnsiedlungen“
Positionspapier

„Intervallstudie Leipzig-Grünau“
empirische Langzeitstudie zur Wohnzufriedenheit in Großwohnsiedlungen