„Leerstand in kleineren Städten breitet sich aus“

Interview mit Professorin Sigrun Kabisch über künftige Abrissstrategien in Wohnvierteln – LVZ vom 02./03.03.13:


Mindestens 100.000 Wohnungen in Sachsen sind überflüssig und sollen langfristig weg. Trotzdem werden Neubau-Gebiete wie Leipzig-Grünau nicht plattgemacht, ist Sigrun Kabisch vom Leipziger Helmholtz Zentrum für Umweltforschung überzeugt. Im Gegenteil: DDR-Großwohnsiedlungen haben mehr zu bieten und könnten wieder zum Trend werden, so die Professorin für Stadt- und Umweltsoziologie.


Frage: Weil die Sachsen weniger werden, werden viele Häuser ein Fall für die Abrissbirne. Aber wie sollen die Städte danach aussehen?

Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Stärkung der Innenstädte. Das ist auch richtig so. Nicht umsonst haben die europäischen Städtebauminister die Leipzig-Charta aufgesetzt, in der die Bedeutung der innerstädtischen Quartiere für die Stadtentwicklung betont wird. Dennoch dürfen Leerstand und der nachfolgende Verfall nicht übersehen werden. Wir müssen beachten, dass sich der Leerstand in kleineren Städten und ländlichen Gemeinden ausbreitet. Auch hier muss gehandelt werden.

Und wie?

Der Umgang mit Leerstand kann nicht mehr auf die Großwohnsiedlungen begrenzt werden. Der bisherige Abriss von 300000 Wohnungen im Osten Deutschlands hat sich im Wesentlichen hier konzentriert. Weil hier große Bestände insbesondere der kommunalen Unternehmen vorhanden waren, erhielten sie die entsprechenden Fördermittel. Es gibt Städte, die mussten großflächig abreißen – wie Halle-Silberhöhe. In Leipzig-Grünau wurden punktuell von etwa 32000 Wohnungen 7600 abgerissen.

Viel zum Abreißen ist in den Großwohnsiedlungen ja nicht geblieben.

Zumindest nicht in dem gleichen Umfang. Durch die anhaltenden Einwohnerverluste wächst der Leerstand in den Altbauten, auch in sanierten. In Görlitz zum Beispiel haben wir gut sanierte Altbausubstanz, die aber leer ist, während die Plattenbauten am Stadtrand belegt sind. Wir können niemandem vorschreiben, wo er wohnen soll. Doch gerade mit Blick auf die Stärkung der Innenstädte widersprechen Abrisse diesem Ziel. Somit wird das Aushandeln von Abrissvorhaben schwieriger. Abreißen kann nur der Eigentümer und dieser empfindet den Abriss als Wertvernichtung, zumal wenn er bereits investiert hat. Es darf auch nicht vergessen werden, dass Abriss nicht zum Null-Tarif zu haben ist. Ob die Städtebauförderung in erforderlichem Umfang darauf reagieren kann, bleibt abzuwarten.

Was wird denn dann übrig bleiben von den kleineren Städten?

Nehmen wir Mittelstädte wie Hoyerswerda. Dort haben wir Plattenbausiedlungen am Stadtrand, die im Zuge der Entwicklung eines Industriekombinats gewachsen sind. Inzwischen sind aufgrund des Arbeitsplatzschwundes massiv Leute weggezogen. So entstanden fast leere Quartiere, die vollständig abgerissen wurden. Diese Flächen werden auch langfristig nicht mehr im Flächennutzungsplan für Wohn- oder Gewerbezwecke ausgewiesen.

Die werden also wieder Wald?

Ja, am Stadtrand entsteht Wald. Man darf aber nicht vergessen, dass Hoyerswerda vor dem industriellen Wachstum ja auch existierte, ähnlich wie Schwedt, Sömmerda oder Weißwasser, wo wir die gleichen Probleme vorfinden. Das waren funktionierende, historisch gewachsene Kleinstädte, die durch den Industrialisierungsschub in historisch kurzer Zeit ein Bevölkerungswachstum erfahren haben und massiv überformt wurden. Diese Städte versuchen, an die traditionellen Entwicklungslinien anzuknüpfen und eine neue Perspektive zu finden.

Wohnen in der Platte galt mal als fortschrittlich. Könnte es wieder zum Trend werden?

Platte im herkömmlichen Sinne wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Vielmehr gilt es, das Potenzial der großen Siedlungen zu nutzen. Dazu gehören bedarfsgerechter Umbau, Rückbau der Blöcke, energetische Sanierung in großem Stil sowie die guten ökologischen Qualitäten im Umfeld. Leipzig-Grünau begleiten wir seit 30 Jahren. Dort gibt es vielfältige Infrastrukturangebote, man kann in fußläufiger Umgebung relativ viele Einrichtungen erreichen. Es gibt viel Grün und mehr Spielplätze als in Gründerzeitvierteln, wo viele Familien mit Kindern leben.

Und nicht zu vergessen: Die Mieten sind günstig.

Sagen wir lieber preiswert und überschaubar. Man sollte sich von dem Irrglauben verabschieden, dass in diesen Siedlungen alles billig ist. Es gibt dort immer mehr Wohnungsunternehmen, die auf unterschiedliche Zielgruppen orientieren. Das reicht vom Wohngeldempfänger bis zum gutsituierten Mieter. Schon jetzt gibt es eine breite Palette von Wohnungsangeboten. Wie das Schönauer Viertel, das in den letzten Jahren am Rande von Leipzig-Grünau entstanden ist. Die Leute ziehen dorthin, weil sie ihr Einfamilienhaus haben und gleichzeitig die Dienstleistungsangebote der Großwohnsiedlung nutzen können. Etwa die Hälfte der Bewohner ist aus der Platte weggezogen, aber im Gebiet geblieben.

Interview: Christine Keilholz

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 02./03.03.2013