„Kinder nicht in dumm und schlau sortieren“

Sachsens Landeselternrats-Vorsitzender plädiert für Gemeinschaftsschulen und kritisiert das Schulgesetz

Gute Pisa-Ergebnisse sind nicht alles – dafür können sich die Schüler später nichts kaufen. Das sagt Peter Lorenz, der Vorsitzende des Landeselternrates Sachsen, und fordert Reformen für das Schulsystem. Dazu gehört gemeinsames Lernen bis mindestens zur achten Klasse.


Peter Lorenz (54) ist seit 2013 Vorsitzender des Landes-elternrates Sachsen. Der selbstständige Industriekaufmann hat vier Töchter und lebt in Penig bei Chemnitz.


Das neue Schulgesetz liegt als überarbeiteter Regierungsentwurf vor und Sie sind immer noch enttäuscht – weshalb?

Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Traurig finde ich, dass im Zuge der Bürgerbeteiligung 660 Änderungsvorschläge gemacht wurden und ganze 40, davon die meisten nur redaktionell, eingearbeitet wurden. Als Landeselternrat sehen wir vor allem den immer noch strikten Umgang bei den Themen Inklusion, die als Zugeständnis deklariert wird, und Gemeinschaftsschule beziehungsweise längeres gemeinsames Lernen kritisch. Deutschland ist in Europa das einzige Land, in dem noch in Bundesländern zweigliedrig unterrichtet wird – alle anderen haben das schon lange nicht mehr. Sachsen sollte mal nach Thüringen oder Baden-Württemberg schauen, wo sich gerade einiges in Sachen Schule bewegt.

In der DDR gab es das gemeinsame Lernen bis zur achten beziehungsweise zehnten Klasse. Möglicherweise ist das eine Ursache, dass der Freistaat zögert.

Das könnte sein – aber es ist doch fatal, den guten Schulansatz aus ideologischen Gründen zu verdammen. Ich habe mir Gemeinschaftsschulen in anderen Bundesländern sowie in Skandinavien angeschaut. Die Finnen, die heute ein führendes Bildungsland sind, haben in der DDR hospitiert und einiges übernommen, aber 30 Jahre weiterentwickelt. Die SPD konnte sich bei den Verhandlungen leider nicht durchsetzen. Das ist schon traurig. Es muss um die Sache gehen, nicht um Parteipolitik. Die Eltern haben verstanden, wie wertvoll und zukunftsweisend das längere gemeinsame Lernen für ihre Kinder sein wird.

Was heißt Gemeinschaftsschule im Konkreten? Bis wann soll es ein gemeinsames Lernen geben?

Wie lange gemeinsam gelernt wird, sollten die Schulen selbst entscheiden können – wichtig ist nur, dass es länger ist als bisher. In Thüringen wird die Entscheidung über den angestrebten Schulabschluss zum Beispiel in die Klasse 8 ver­lagert, was sinnvoll ist. Dann kann jeder Schüler – je nach Befähigung und Leistung – für sich den höchsten Abschluss anstreben: Hauptschule, qualifizierende Hauptschule, Realschule, Fachabitur sowie allgemeine Hochschulreife. Das wirkt sich positiv auf die Motivation und die schulische Entwicklung aus.

Dafür müsste in Sachsen das gesamte Schulsystem geändert werden.

Nein, das heißt nicht, dass das ganze System auf den Kopf gestellt werden soll. Aber wo Eltern, Schüler, Lehrer und Gemeinde sich einig sind, muss eine Gemeinschaftsschule möglich sein. Gerade im ländlichen Raum gibt es Schulen, die verwaisen. Man könnte hier aus zwei oder drei Grund- und Oberschulen relativ leicht eine Schule für alle machen. In den Großstädten ließe sich eine Ghettoisierung und Abschottung verhindern.

Sie meinen, Gemeinschaftsschulen könnten ein Mittel gegen das Schulsterben sein?

Ja, sie sind zwar kein Allheilmittel, doch sie können neue Perspektiven eröffnen. Wir brauchen ein intelligentes System, das wir von Freien Schulen abschauen sollten: Schulen mit eigenen Konzepten, die in der Region vernetzt sind. Das muss das neue Schulgesetz hergeben – es braucht nur einen Satz, der nicht mal verpflichtend sein muss, aber vieles ändern würde. So könnten wir Schulen retten und den Kindern eine viel bessere Ausbildung zukommen lassen. Das Schlimme ist: Der eigentliche Bildungsminister heißt in Sachsen Professor Unland. Doch es darf nicht nur ums Geld gehen.

Die sächsische Regierung hat gerade ein Bildungsprogramm zur Fachkräftesicherung aufgelegt. Passt das zu der Ankündigung von Kultusministerin Kurth, die Lehrpläne auszudünnen?

Gemeinschaftsschulen können genau das leisten. Welche Situation haben wir denn heute? Die Gymnasien kümmern sich wenig um die Berufsorientierung und die Oberschulen verkommen allmählich zu Resteschulen, für die kaum noch Lehrer gefunden werden. Wir verzeichnen dort furchtbar schlechte Abschlussquoten und hohe Abbrecherzahlen an Ober- und Förder- sowie berufsbildenden Schulen. Und parallel wird das Lernen verlernt, weil zu viel – vor allem in den Gymnasien – gepaukt wird. Mit dem Heranführen an das Leben hat das nichts mehr zu tun, denn die Gelegenheiten fehlen, das Erlernte auch anwenden zu dürfen. Deshalb müssen wir davon wegkommen, dass unsere Kinder nur aufbewahrt werden und viel unnützes Wissen eingetrichtert bekommen. Gute Pisa-Ergebnisse sind nicht alles, davon kann sich kein Schüler später etwas kaufen.

Welche Richtung schwebt Ihnen vor?

In Sachsen gibt es 122.000 Betriebe, davon haben 95.000 nur maximal fünf Beschäftigte. Das heißt: Wir müssen unsere Kinder fit machen, dass sie gerade in kleinen Unternehmen, meist Handwerksbetrieben, eine Zukunft haben können. Das Problem heute ist: Viele Jugendliche sind aufgrund ihrer schlechten Leistungen und unzureichenden Vorbildung gar nicht oder nur bedingt ausbildungsfähig. Diejenigen müssen wir gezielt fördern und dürfen nicht nur an die Spitze, zu den leistungsstarken Abiturienten, schauen, die Sachsen mit hoher Wahrscheinlichkeit für ein Studium verlassen und dann vielleicht irgendwo arbeiten.

Die Oberschulen haben ein schlechtes Image. Sie selbst sprechen von Resteschulen. Was können Gemeinschaftsschulen, was Oberschulen nicht können?

Der Begriff kommt nicht von mir, er ist leider schon Sprachgebrauch. Die Oberschulen sollen alles leisten: Inklusion von Menschen mit Behinderung beziehungsweise Lern- oder Entwicklungsbesonderheiten, Integration von Flüchtlingen, unterschiedliche Abschlüsse. Da ist es nachvollziehbar, dass jeder, der irgendwie kann, das Weite sucht. Und damit sind wir wieder am Anfang: Es nutzt uns für die Zukunft nichts, wenn wir unsere Kinder nach dumm und schlau sortieren – so fängt schon mit zehn Jahren, in der Grundschule, das Ab- und Ausgrenzen an. Bei den Förderschulen ist die Situation noch drastischer, diese Kinder bekommen frühzeitig einen Stempel verpasst, und das wird durch das neue Schulgesetz nicht wesentlich verbessert.

Was ist Ihrer Ansicht die Konsequenz?

Insgesamt heißt das: Durch die frühzeitige Auslese sind die Lebenswege vorprogrammiert und die Kinder haben später kaum noch eine Möglichkeit auf bessere oder höherwertige Abschlüsse. Nicht umsonst wird die Durchlässigkeit und Chancengerechtigkeit auch an sächsischen Schulen von Bildungs- und Sozialforschern immer wieder kritisiert. Daran muss sich dringend etwas ändern. Es gibt in dieser Beziehung vor allem in der großen Regierungsfraktion, der CDU, ein Beharrungsvermögen – doch die Abgeordneten, die über das Schulgesetz zu entscheiden haben, sollten die Augen nicht vor der Realität verschließen.

Interview: Andreas Debski

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 17.05.2016