„Jugendhilfe vorm Kollaps?“

Grünauer Sozialarbeiter registrieren Zunahme von Problemkindern, fordern neue Hilfsstrukturen
Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 04.11.2014:

Grünauer Sozialarbeiter schlagen Alarm. Gewaltbereitschaft, Schulbummelei, Selbstverletzung, Essstörungen, psychische Auffälligkeiten: Das alles stellen die im Arbeitskreis Grünau (AK) vereinten Sozialarbeiter und Vertreter der Jugendarbeit bei dem von ihnen betreuten Nachwuchs im wachsenden Maße fest. „Alle vorhandenen Systeme der Jugendhilfe stehen aus unserer Sicht vorm Kollaps. Wir brauchen schnellstens jenseits jeglicher Finanzdebatten eine breite fachliche Diskussion, wie diese Systeme den sich ändernden Problemlagen anzupassen sind“, so namens des AK Sprecherin Kathrin Zschuckelt.
Sie selbst – seit 20 Jahren Sozialarbeiterin im Stadtteil – trauert alten Zeiten fast schon nach. „Früher haben wir die Acht- bis 21-Jährigen in ihrer Freizeit von der Straße holen und Projekte mit ihnen machen können. Inzwischen scheint das unmöglich“, sagt sie. „Im Alltag sind wir fast nur noch dabei, Krisen zu managen. Immer mehr Kinder und Jugendliche sind von Verhaltensauffälligkeiten gezeichnet. Armut und emotionale Verwahrlosung unter den Heranwachsenden haben zugenommen. Unsere Arbeit ist nur noch auf den Moment ausgerichtet. Oftmals sind auch viele von uns am Ende ihres Lateins und ihrer Kräfte. Oftmals geht es bei uns nur noch darum, dass Kinder und Jugendliche und auch unsere Mitarbeiter selbst unverletzt wieder nach Hause kommen“, so Zschuckelt. Und eine Kollegin aus der Schulsozialarbeit, die namentlich nicht genannt sein mag, fügt hinzu: „Wir haben es heutzutage teils schon mit Sieben- bis Neunjährigen zu tun, die Suizidgedanken haben. Es ist diese komplexe Zunahme von sehr aufwendig zu betreuenden Einzelfällen, dem unser ganzes Helfersystem – ob Kita, Schule, Jugendhilfe – nicht mehr gerecht wird und was Angst macht.“ Lehrern, die einen Bildungsauftrag haben, würden immer öfter eher therapeutische Fähigkeiten abverlangt. Kollegen, die in den Wohngruppen des Jugendamtes sehr viel mit verhaltens- und bindungsgestörten Kindern zu tun hätten, würden häufig wechseln. „In den letzten zwei Jahren hat in so einer WG allein 19 Mal die Bezugsperson gewechselt“, weiß Zschuckelt zu erzählen.
„Wir hatten das alles schon mal 2008 zuständigen Stellen beschrieben, doch keiner hat reagiert“, so die AK-Sprecherin. „In der Folge konnte so auch erst aus der sogenannten Grünauer Jugendbande wirklich eine Jugendbande werden“, ist sie überzeugt. „Das, was dann über solche Fälle in den Medien zu lesen ist, sind aber nur die Symptome eines zunehmend versagenden Hilfsnetzes. Mal abgesehen davon, dass wir hier in Grünau seinerzeit noch den Effekt hatten, dass dann alle Kumpel der ,Jugendbande‘ auch so berühmt werden wollten „
Trotz ihrer Vor-Ort-Erfahrung sind Zschuckelt und ihre Mitstreiter der Meinung: „Das ist nicht nur ein Grünauer Problem.“ Es sei vielmehr eines, was sich nunmehr schleunigst Politik, Hochschulen, Schulen, Bürger, Verwaltungen und Behörden in einer konzertierten Aktion auf den Tisch holen müssen. Die „dramatische Entwicklung“ sei „nicht zuletzt befördert worden durch die parallel strukturellen Verschlechterungen in Schule und Jugendhilfe“. „Da sind Schulen in einem schlechten Zustand, die Klassen viel zu groß, die personellen Ressourcen in Schule und Jugendhilfe zunehmend aufgebraucht“, nennt Zschuckelt Beispiele. Der Fördertopf für die Kinder- und Jugendhilfe in der Stadt sei schon seit Jahren auf 9,5 Millionen Euro beschränkt. Hingegen würden die Kosten für Hilfen zur Erziehung explodieren. In diesem Jahr seien es schon über 50 Millionen Euro, im Vorjahr waren es noch 40,4 Millionen.

Vize-Amtschefin: Müssen uns mehr vernetzen

Heike Förster, Vize-Leiterin des Leipziger Amtes für Jugend, Familie und Bildung, hält die Arbeit der Grünauer Arbeitskreis-Kollegen für „sehr professionell“. „Sie haben schon recht, wenn sie sagen, die Problemlagen von Kindern und Jugendlichen haben sich geändert, sind komplexer geworden“, sagt sie. „Ich denke, wir hier in Leipzig haben das in unserem 2012 verabschiedeten Fachplan der Kinder- und Jugendförderung auch schon aufgegriffen, haben beispielsweise einzelne ‚Planungsräume‘ gebildet, in denen sich die Akteure gemeinsam zu Lösungen verständigen sollen, weil die Probleme da gelöst werden müssen, wo sie sind. Vor Ort. Was man sicher machen muss, ist, genauer zu schauen, wie viele Sozialarbeiter man in den unterschiedlichen Systemen jeweils hat. Mitunter haben wir schon sehr viele: Sozialpädagogen und Erzieher in den Kitas und Horten, Straßen- und die Schulsozialarbeiter, Leistungserbringer in stationären und ambulanten Bereichen“, meint sie. „Aber die Akteure vor Ort – Pädagogen aus unterschiedlichsten Professionen und Institutionen – müssten sich noch mehr vernetzen, um an einem Problemkind noch besser dranbleiben zu können und gemeinsame Wege zu finden. So dass zum Beispiel wirklich eine Bezugsperson und nicht eine Vielzahl von Helfern mit solch einem Jugendlichen arbeitet.“
Zugleich stimmt die Vize-Amtschefin zu, dass gesamtgesellschaftlich über veränderte Formen in der Kinder- und Jugendhilfe nachgedacht werden muss. „Natürlich kann man auch immer mehr Geld in das Hilfssystem pumpen, aber abgesehen davon, dass Städte wie Leipzig abwägen müssen, was geht und was nicht, sehe ich eher einen größeren Optimierungsbedarf zwischen der Jugendhilfe und anderen gesellschaftlichen Systemen wie Schulen, Jobcenter und Gesundheitseinrichtungen. Da stimme ich dem Grünauer AK zu, wenn er sagt, es müssen zunehmend auch andere Akteure mit ins Boot – Bundes- und Landespolitik etwa, das Gesundheitswesen und Unternehmen, die den Heranwachsenden eine Perspektive geben. Denn das ist es am Ende ja, was sie brauchen“, so Förster.

Angelika Raulien

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 04.11.2014