„Jeder hat seine Vorstellung vom Paradies“

Ein Foto-Buch über Grünau
Leipziger Internet Zeitung vom 10.09.2011:

In ?Paradise lost? Auf der Suche nach dem Paradies im Plattenbau? porträtiert Antje Stumpe den Leipziger Stadtteil Grünau. Dazu kehrt die Fotografin und Kommunikationsdesignerin an den Ort ihrer Kindheit zurück. In dem Foto-Buch erzählen Grünauer von ihrem ganz persönlichen Paradies. Fotos zeigen den Stadtteil aus ihrer Sicht von Antje Stumpe.

Aufgewachsen sei sie im ?Paradies?, so sagt es Antje Stumpe von sich selbst. Das Paradies ihrer Kindheit war für die junge Frau vom Jahrgang 1979 die realsozialistische Plattenbausiedlung Grünau im Westen Leipzigs.

Doch Menschen außerhalb ihres Paradieses mochten diese Einschätzung oft nicht teilen. Das Wort ?Ghetto? nahmen sie oft in den Mund, wenn ihnen Antje Stumpe erzählte, wo sie zu Hause ist. Diese Grunderfahrung findet sich auch nahezu wörtlich in der Einleitung des Foto-Buchs ?Paradise lost? Auf der Suche nach dem Paradies im Plattenbau?, das die frisch diplomierte Fotografin und Kommunikationsdesignerin jetzt bei ProLeipzig herausgebracht hat.

Es ist eine der Paradoxien der DDR, das an verschiedenen Orten jenseits der offiziellen Sprachregelungen das Wort ?Ghetto? aufkam, wenn von den Plattenbausiedlungen der 1970er und 1980er Jahre die Rede war. Es schauerte schon damals manchen, wie unreflektiert in der sich ganz besonders antifaschistisch verstehenden DDR dieser belastete Begriff in der Alltagssprache um sich griff. Auch auf andere Weise steht das G-Wort im Gegensatz zur offiziellen Darstellung, nach der die Plattenwohnungen Komfort auf der Höhe der Zeit boten. Für viele Bewohner unsanierter Altbauwohnungen stellten sie in der Tat einen unerreichbaren Luxus dar.

Antje Stumpe kam sich bei der Arbeit an ?Paradise lost?? so vor, als kehre sie ?mit der Kamera in die Kindheit zurück?. Sie hat an der Hochschule für Kunst und Design in Halle (Saale) auf der Burg Giebichenstein studiert. Das Foto-Buch ist ihre Abschlussarbeit, mit der sie zurück in ihre Heimat gekehrt ist, wie sie sagt. Es gehe dabei um Heimat als erinnertes Paradies, so die Leipziger Künstlerin weiter zu L-IZ, also eben auch darum, ?das Image aufzuarbeiten?, das Grünau hat.

Im ersten Teil des Buches wird erzählt, ?wie die Leute, die hier leben, ihren Stadtbezirk sehen?, sagt die Autorin. In vierzehn Interviews erzählen Grünauer über ihren Stadtteil und ihr ganz persönliches Paradies. Dabei geht es auch um die Frage, was geblieben ist ?von dem Traum des angedachten Paradieses für ehemals 85.000 Menschen?. Die Interviewpartner gehören zur Generation Erstbezug, die zumeist als Erwachsene ab 1976 nach Grünau zogen. ?Meine Generation hat der Platte den Rücken gekehrt?, musste Antje Stumpe, Anfang 30, feststellen. Das findet sie ?eigentlich unbegreiflich?.

Viele Grünauer hätten sich ein kleines Refugium geschaffen: mal sei es die bunte Wandtapete, dann der liebevoll gestaltete Balkon, Sammlungen, Zimmerpflanzen, ein Mietergarten oder die ?Kurze Ecke?, die Vereinsgaststätte des Hockey Club Lindenau Grünau an der Straße am Park.

?Jeder hat seine Vorstellung vom Paradies?, so die Erkenntnis von Antje Stumpe. Die Texte hätten bei ihr verschiedentlich ein Gänsehaut-Gefühl ausgelöst. Besonders in Erinnerung geblieben sind ihr die Interviewpassage ?Wir leben hier doch mitten im Ghetto?, aber auch die Aussage ?Hier leben doch eigentlich nur die Schlauen?, der preiswerten Mieten und der energetisch optimalen Bauweise wegen.

Im zweiten Teil des Buches blickt Antje Stumpe auf andere Weise auf das heutige Grünau. Mit einer Holga-Kamera hielt sie Ansichten von Grünau im Blick durch die Plastelinse fest. Das war fast so etwas wie fotographische Handarbeit, mit einem Rollfilm wie früher. Der unkontrollierte Lichteinfall bei der Kamera ?Made in China? hätte ?Bilder mit poetischer Aura? produziert, so Antje Stumpe. Holgagraphien nennt sie sie.

Ganz modern ging Antje Stumpe übrigens beim Einwerben der Druckkosten zu Werke. Das Crowdfunding bei startnext.de führte schnell zum Erfolg. Darüber hinaus wird das Projekt von den Wohnungsgesellschaften Lipsia und Elsteraue sowie von der Bären Apotheke in Grünau unterstützt.

Bis zum 11. September werden Bilder des Buches noch in einer Ausstellung in den Räumen des Nachbarschaftsvereins „Miteinander Wohnen und Leben“ in der Alten Salzstraße 104 zu sehen sein. Täglich von 10 bis 14 Uhr wird die Autorin dort vor Ort sein, um über ihr Buch zu diskutierten. Für den Nachbarschaftsverein und die Wohnungsgenossenschaft Unitas ist diese Veranstaltung ein ?Anfang?. Die erste Ausstellung in Grünau zu dem Buch findet beim Nachbarschaftsverein in einer Plattenbauwohnung statt. ?Alles, was in Richtung Kultur geht, ist für das Wohngebiet wichtig?, findet Steffen Foede von der Unitas: Man wolle den Mitgliedern auch etwas Schönes bieten. ?Wir unterstützen Buch und Ausstellung, weil sie Grünau von einer anderen Seite zeigen?, fügt Kathrein Hoffmann vom Nachbarschaftsverein hinzu.

Anschließend wird die Ausstellung im Komm-Haus in der Selliner Straße 17 zu sehen sein. Den Auftakt dort bildet eine Podiumsdiskussion am Freitag, 16. September, 18:30 Uhr, nebst Vernissage.

Gernot Borriss

Quelle: Leipziger Internet Zeitung vom 10.09.2011


Antje Stumpe: „Paradise lost? Auf der Suche nach dem Paradies im Plattenbau“
Pro Leipzig, Leipzig 2011, 17 Euro.