„Horror-Wesen namens Kinder“

„Shockheaded Peter“ als Theatrium-Premiere:

1844 schrieb Dr. Heinrich Hoffmann seinen „Struwwelpeter“. Die Bibel der „schwarzen Pädagogik“. Bestseller und Fundgrube des Pathologischen und Repressiven. Dessen erzieherische Intentionen wiederum griffen 150 Jahre später die Engländer Phelim McDermott und Julian Crouch auf – und kehrten sie ins Gegenteil: Mit einer Art Jahrmarkts-Oper, einem Grand-Guignol-Zirkuszelt-Musical, das das pädagogisch Repressive des Buches ins Anarchische katapultierte und ihm so herrlich den Garaus machte.
„Shockheaded Peter“ heißt dieses Werk und so heißt auch die Inszenierung Sandra von Holns, mit der es das Theatrium jetzt vor der Sommerpause noch einmal krachen lässt. Eine geschickte Adaption, eine souverän erzählerische Abwandlung der McDermott/Crouch-Vorlage, deren eigentümlichen Witz und Charakter von Holn aber dennoch zu bewahren wusste.
Ein Paar macht sich Gedanken um die Zukunft: Kinder oder nicht? Denn so süß sie scheinen, die Racker, entpuppen sie sich doch oft als Horror-Wesen des Eigenwillens, der Widerborstigkeit und Wildheit. Da kann man schon mal Alpträume bekommen – und wie nun diese Alpträume hier auf der Bühne erstehen, ist schlichtweg ein Gaudi.
Da ist die Live-Band, die die altbekannten Moritaten über fiese Bälger, die nicht hören wollen, so herrlich rumpeln und schmettern, dass es einen kaum auf den Sitzen hält. Dazu poltert ein, man spürt es, choreographisch nur schwer zu bändigendes Kinderensemble über die Bühne, das dennoch ein passendes Bild des Tohuwabohus zustande bringt – gerade in den Momenten des Unbehauenen und Unperfekten, in dem sich ja auch etwas vom Inhalt des Erzählten transportiert.
Denn es ist dieses Bedürfnis, nach dem reibungslos Funktionierenden, dem Ecken- und Kantenlosen, dem, wenn man so will, Kind ohne kindlichen Charakter, das hier aufs Korn genommen wird. Dass sich an diesem Bedürfnis seit 1844, wenn auch in der Entäußerung, so doch nicht im Kern allzu viel geändert hat, schwingt dabei unaufdringlich als Botschaft in dieser Inszenierung mit. Und piekst vielleicht sogar als kleiner, fieser Stachel.
Dem Spaß tut’s keinen Abbruch. Die Szenenwechsel sind dynamisch, kleine Holprigkeiten im Tempo kann man ignorieren. Alle Darsteller finden gut in ihre Rollen, das heißt: Die Rollen wurden klug besetzt und dort, wo eben schauspielerisches Handwerk (logischerweise) fehlt, wurde geschickt mit Regieeinfällen gepolstert. Charme hat das Ganze sowieso. Der Applaus: lang und laut. Und somit absolut angemessen.

Steffen Georgi


„Shockheaded Peter“ wieder am Sonntag [07. Juli], 16 Uhr, sowie 27./28.September, je 16 Uhr im Theatrium (Alte Salzstraße 59), ab 8 Jahre, Karten für 5,50/4 Euro unter Tel. 0341-9413640
weitere Infos zum Stück unter: www.theatrium-leipzig.de


Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 01.07.2013