„Grünauer fürchten Abkopplung“

S-Bahn-Strecke wird wahrscheinlich stillgelegt / Auch Änderungen bei Post, Sparkasse und LVB – Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 08.12.2010:

In Grünau geht die Angst um, der Stadtteil könne wichtige Teil seiner ausgezeichneten Infrastruktur einbüßen. Vor allem die Ankündigung des Zweckverbandes Nahverkehr Leipzig (ZVNL), unter Umständen die S-Bahn-Linie 1 für fast drei Jahre zu schließen, ruft massive Proteste hervor.
Familie Röhler wohnt seit 1992 in der Selliner Straße. „Bisher haben wir uns hier sehr wohl gefühlt. Die Infrastruktur war großartig und lebensnah“, erzählt Katrin Röhler. Doch was in nächster Zeit auf die rund 15.000 Einwohner in den Wohnkomplexen (WK) 7 und 8 zukomme, entspreche einer „Abkopplung von Leipzig“, sei „nicht akzeptabel“.
Ebenso sieht es Barbara Heil aus der Brackestraße: „Grünau wird immer mehr von der Infrastruktur abgeschnitten.“ Als Beispiele zählt sie auf: „Schließen der Sparkasse, der Post, Einstellen von Straßenbahnlinien und jetzt auch noch der S-Bahn? Der Winterdienst kommt auch nicht nach Grünau. Soll hier vielleicht eine vergessene Insel oder eine Hartz-IV-Stadt entstehen?“
Seit die LVZ vor einer Woche berichtete, dass der ZVNL eine Schließung der S-Bahn-Linie vom Hauptbahnhof bis zur Miltitzer Allee erwägt, hagelt es in ihrem Büro Proteste, berichtet Antje Kowski vom Quartiersmanagement in der Stuttgarter Allee. „Die Leute fürchten, dass aus einer stillgelegten S-Bahn-Strecke schnell eine riesige Müllhalde wird. Schon jetzt gibt es an der Bahntrasse, die mitten durch den ganzen Stadtteil führt, Probleme mit Ordnung und Müll. Und niemand glaubt, dass eine einmal abgeschriebene Strecke nach drei Jahren Pause wieder eröffnet wird.“
Wie berichtet, will der Freistaat Sachsen einen Teil der Mittel, die er vom Bund für den Nahverkehr erhält, nicht mehr an die regionalen Zweckverbände weiterleiten. Dem ZVNL drohen damit ab 2011 Verluste von zehn Millionen Euro pro Jahr. So ein hoher Betrag könne nur durch „schmerzliche Kürzungen“ eingespart werden, erklärte Verbandschef Gerhard Gey auf Nachfrage. Etliche Zugverbindungen in der Region, aber auch in Leipzig müssten gestrichen werden, falls der Landtag die Pläne am 17. Dezember genehmigt. Wahrscheinlich wäre der ZVNL gezwungen, den S-Bahn-Verkehr zwischen Hauptbahnhof und Miltitzer Allee bis zur Eröffnung des City-Tunnels Ende 2013 komplett einzustellen. „Wir wollen das nicht, haben bei der Staatsregierung mit sehr deutlichen Worten vor den Folgen gewarnt“, sagte Gey. Falls es wirklich zu den Kürzungen komme, müsse der ZVNL aber im Januar entscheiden, wo gespart wird. „Im Moment prüfen wir das alles noch.“
Quartiersmanagerin Kowski betonte, Grünau werde keineswegs im Stich gelassen. So starte im März die neue Buslinie Grünolino (siehe Beitrag Mitte). Die Sparkasse wolle zwar im Frühjahr die Filiale in der Selliner Straße schließen, investiere aber gleichzeitig 1,2 Millionen Euro in die Filialen im Ratzelbogen, im WK 7 und im Allee-Center. „Die Sparkasse erhält auch den Standort im WK 2, obwohl er nicht kostendeckend arbeitet. Das Angebot insgesamt ist sehr gut“, lobte sie. Dass die Post vor einigen Monaten ihre Zweigstellen im WK 7 und 8 geschlossen hat, folge einem allgemeinen Trend. „Die Postdienste übernehmen jetzt kleine Geschäfte. Zudem bleibt die große Postfiliale an der Stuttgarter Allee erhalten.“ Der Neubau eines Ärztehauses im WK 8 oder die Eröffnung des Theatriums im WK 2 zeige, dass Grünau Zukunft hat.
Jens Rometsch

S t a n d p u n k t : Aus für die S-Bahn wäre grotesk

Totgesagte leben länger. Wer wüsste das besser als die 43.000 Einwohner von Grünau. Ihrem Stadtteil wird alle paar Jahre der Untergang prophezeit. Jedoch gibt es heute vermehrt Zuzüge von jungen Leuten, die an die Wahl ihres Wohnorts nicht ideologisch, sondern rein praktisch herangehen. Genügend Spiel- und Kitaplätze, Schulen, See-Nähe und das wahrscheinlich beste Sportstättenangebot in Leipzig sind einige Vorzüge des Stadtteils tief im Westen.
Grünau wird immer mehr zum ganz normalen Stadtteil. Folglich müssen die Bewohner dort akzeptieren, dass auch bei ihnen gespart wird, wenn in der ganzen Stadt gespart wird. So ist die Zusammenlegung der beiden Bürgerämter nachvollziehbar und sinnvoll. Als Ausgleich für längere Straßenbahn-Taktzeiten haben die LVB schon eine neue Buslinie 65 geschaffen, die effektiver und beliebt ist. Anders sieht es mit dem Schließungsplan für die S-Bahn aus. Es wäre grotesk, Leipzigs S-Bahn-Netz zu kappen, um so ausgerechnet Geld für den City-Tunnel aufzutreiben.
Jens Rometsch
j.rometsch@lvz.de

Quelle (Text + Foto): Leipziger Volkszeitung vom 08.12.2010


„Linke und Grüne fordern S-Bahn-Erhalt“
Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 09.12.2010:

Leipzigs Linke und Grüne haben gestern heftige Kritik an Sachsens Wirtschaftsminister Sven Morlok (FDP) geübt. Anlass war ein Beitrag in der LVZ über die drohende Schließung der S-Bahn-Linie nach Grünau. „Seit Jahren haben wir vorhergesagt, dass die aus dem Ruder laufenden Kosten für den City-Tunnel vor allem von denen aufzubringen sein werden, die auf den öffentlichen Personennahverkehr angewiesen sind“, betonten die Linke-Landtagsmitglieder Dietmar Pellmann und Volker Külow in einer gemeinsamen Erklärung. Sie kündigten Protestaktionen und mehrere Anfragen an die Staatsregierung an. „Minister Morlok, der jeden verfügbaren Euro in den Straßenbau investiert, interessiert nicht, ob Grünauer Berufspendler, ältere Menschen oder Schwerbehinderte auf der Strecke bleiben.“
Ähnlich sah es Siegfried Schlegel, Bauexperte der Linken im Stadtrat. Insbesondere im Berufsverkehr sei ein Wegfall der S-Bahn unannehmbar. „Straßenbahnen und Busse in Grünau sind auf die S-Bahn abgestellt.“ Schlegel forderte die Offenlegung der Transportzahlen – zuletzt hätten verstärkt Zählungen in den Zügen stattgefunden. Grünau sei städtebaulich auf die Bahnstrecke orientiert. Seine Fraktion erwarte daher auch eine Intervention des Oberbürgermeisters.
Grünen-Sprecher Jürgen Kasek meinte, die Politik Morloks gleiche einem „Zug nach nirgendwo“. Auch der Stadtbezirksbeirat West, wo Kasek Mitglied ist, lehne die – zunächst für drei Jahre avisierte – Schließung der S-Bahn ab. jr

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 09.12.2010


Lesen bzw. sehen Sie dazu auch:
„Erhalt der S-Bahn-Linie 1 gefordert“

Beitrag des Uni-Radios mephisto 97.6 vom 08.12.2010

„Tillich hält Einsparungen für alternativlos“
Beitrag des MDR-Sachsenspiegel vom 17.12.2010