„Grünauer enttäuscht über Stilllegung der S 1 – Nahverkehr wird unattraktiver“

Lob für Engagement der Stadt / Kritik an Landkreis-Partnern / Vorwürfe an Minister Morlok – Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 18.02.2011:

In der Messestadt wird die Mitgliedschaft im Zweckverband Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL) kritisch hinterfragt. Denn die Landkreise Leipzig und Nordsachsen haben im ZVNL die Stilllegung der S-Bahn-Linie 1 gegen den Willen der Stadt durchgeboxt. Die Landkreis-Repräsentanten hätten sich nicht mit den Argumenten der rund 40.000 betroffenen Bewohner des Leipziger Stadtteils Grünau auseinandergesetzt, heißt es. „Das ist bedenklich und passt nicht in unsere politische Landschaft“, erklärte Martin Malzahn, Sprecher einer Bürgeriniative, die 9.600 Unterschriften für den Erhalt der S 1 gesammelt hatte.

Enttäuschung und Kopfschütteln hat gestern in Grünau die Nachricht ausgelöst, dass die S-Bahn-Linie 1 spätestens ab 11. Juni für fast zweieinhalb Jahre außer Betrieb genommen wird. „Wir hatten gehofft, dass doch noch eine Wende möglich wird“, erklärte Martin Malzahn, Sprecher der Bürgeriniative für den Erhalt der S 1. „Von den 9.600 Unterschriften und den fast 2.000 versandten Postkarten hatten wir uns eine größere Resonanz versprochen.“ Gleichzeitig betonte der Sprecher, die Initiative sei mit dem Auftreten der Stadtverwaltung bei der entscheidenden Sitzung am Mittwochabend (die LVZ berichtete) zufrieden. „Wir sind dankbar und erfreut, dass die Verwaltung so deutlich in unserem Sinne Position bezogen hat. Noch zu Weihnachten klang es anders.“
Malzahn war wie andere Grünauer im Rathaus dabei, als die drei stimmberechtigten Leipziger bei der entscheidenden Abstimmung den Vertretern der Landkreise Leipzig und Nordsachsen unterlagen, die ebenfalls jeweils drei Stimmen in die Waagschale werfen konnten. „Dass die Landkreise eigene Interessen haben, hat uns nicht überrascht“, schilderte Malzahn. „Trotzdem dachten wir, dass es eine sachlich-faire Diskussion gibt. Aber dann war deutlich zu sehen, dass die anderen von vornherein nicht willens waren, sich mit unseren Argumenten auseinanderzusetzen. Für sie stand von Anfang an fest, dass sie gegen die Interessen der Grünauer stimmen werden. Das ist bedenklich und passt nicht in unsere politische Landschaft.“ Hart ins Gericht geht die Initiative auch mit Sachsens Wirtschaftsminister Sven Morlok (FDP), der Mittel für den Nahverkehr gekürzt und so die Streichung der S 1 verursacht hat. „Herr Morlok macht eine schlechte Politik“, so Malzahn. „Wir haben ihn mehrfach eingeladen und ihm Briefe geschrieben, aber es gab keinerlei Reaktion. Wir können doch wenigstens eine faire, sachliche Antwort erwarten.“ Die Initiative will jetzt „konzertierte Aktionen“ starten. Was genau unternommen wird, wird noch beraten. Gefordert werden adäquate Ersatzangebote. „Der angebotene Quartiersbus Grünolino verkehrt nur in Grünau und ist deshalb kein Ersatz für die S 1“, sagte Stadtteilbewohner Andreas Halle und prophezeit: „Die angebotene Erweiterung der Buslinie 80 wird ebenfalls keine Entlastung bringen. Denn im April wird die Luisenbrücke gesperrt und die Linie muss zwei Jahre lang viele Umleitungen fahren.“
Quartiersmanagerin Antje Kowski plädierte für Realitätssinn. „Unser Engagement für die S 1 hat sich gelohnt. Sonst hätten wir jetzt solche zusätzlichen Angebote nicht. Ich denke, wir müssen mit der Situation leben und das Beste daraus machen. “
Andreas Tappert

LEITARTIKEL der Leipziger Volkszeitung von 18.02.2011:
„Nahverkehr wird unattraktiver“

Wenn alle Beteiligten auf das Ergebnis schimpfen, dann ist zumeist ein guter Kompromiss gefunden worden. Auf das vom Zweckverband Nahverkehrsraum Leipzig beschlossene Sparpaket trifft diese Einschätzung nicht zu. Die vielen Kürzungen von Verbindungen und Taktverlängerungen machen den öffentlichen Personennahverkehr im Raum Leipzig eindeutig unattraktiver. Es handelt sich um eine falsche verkehrs- und regionalpolitische Weichenstellung.
Den Verband trifft dabei vielleicht noch die geringste Schuld. Er hat letztlich keine andere Wahl, als die vom Land verfügte Kürzung der Mittel umzusetzen und kann dabei nicht komplett frei handeln. Vielmehr ist der Verband an geschlossene Verträge mit den Bahnunternehmen gebunden und kann somit nur im Einvernehmen mit ihnen Angebote reduzieren. Oder eben auslaufende Verträge nicht verlängern.
Das erklärt auch, warum die S-Bahn-Linie 1 befristet eingestellt wird. 70 Prozent der Kürzungen, die von der Deutschen Bahn zu erbringen sind, entfallen auf diese Verbindung. Da ist eben ein großes Einsparpotenzial, das umgesetzt wird. Betriebswirtschaftlich nachvollziehbar, aber eben ohne Rücksicht darauf, dass der 40.000 Einwohner zählende Leipziger Stadtteil Grünau seines verkehrlichen Rückgrats beraubt wird. Hier ist nun die Stadt in Zusammenarbeit mit ihren Verkehrsbetrieben gefordert, Alternativen anzubieten.
Die Kürzungen machen zudem deutlich, dass die Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges im Freistaat und auslaufende Solidarpaktmittel dazu führen werden, dass so manche lieb gewordene Errungenschaft nicht mehr aus Steuermitteln zu bezahlen sein wird. Sachsen hat sich einer unterm Strich lobenswerten konsequenten Sparpolitik verschrieben, um die finanzpolitischen Herausforderungen zu meistern. Gleichwohl ist zu hinterfragen, ob alle Prioritäten richtig gesetzt werden. Das betrifft auch den Personennahverkehr.
Die gegen den Willen Leipzigs beschlossene Stilllegung der S 1 zeigt auch, dass Stadt und Umland noch weiter voneinander entfernt sind, als es in politischen Sonntagsreden so gerne formuliert wird. Das betrifft nicht nur den Nahverkehr, sondern setzt sich fort beispielsweise im Streit um ein Outlet-Center im nordsächsischen Wiedemar, den Leipzig verhindern will. Eigenwohl hat leider Vorrang vor dem regionalen Gemeinwohl. Hier ist ein Zusammenrücken dringend erforderlich, denn ebenso wie das Umland die Stadt braucht, benötigt auch die Stadt das Umland.
Ulrich Milde

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 18.02.2011