„Geschichten aus der Platte“

Eine Studio-Urbanistan-Performance auf Balkonen fordert gängige Klischees über das Leben in Grünau heraus – LVZ 23.07.2016


Inszenierter Alltag auf den Balkonen im Deiwitzweg 13. Das Publikum verfolgt die Performance von der Wiese aus über Kopfhörer. Foto: André Kempner


In sattem Graubraun erstrahlen die Wände des Plattenbaus, durchbrochen von liebevollen Balkondekorationen: Lichter, Pflanzen, irgendwo weiter oben sitzt ein Zwerg neben roten Blumen. Drumherum alles grün und braun, mit Bäumen und mit Stangen zum Wäschetrocknen. Vor dem Haus aus Sichtbeton sitzt eine bunt durchmischte Gruppe von Menschen. Die meisten haben sich auf Schemeln aus Pappe niedergelassen, einige in das hohe Gras gesetzt, andere auf Steine. In den Händen halten sie Kopfhörer. Sie alle schauen in dieselbe Richtung: Auf das Haus im Deiwitzweg mit den bunten Balkonen. Dann treten andere Menschen auf einige der Balkone, und alle setzen die Kopfhörer auf.
Am Donnerstag fand in Grünau die Premiere der performativen Audio-Installation „Looking at the window is like looking inside you“ vom frisch gegründeten Studio Urbanistan statt, unter der Leitung von Clara Minckwitz und Julia Lehmann. Die Vorstellung wird begleitet von einer Tonspur, die über die Kopfhörer läuft, während die Darsteller auf den Balkonen vor allem eines tun: Leben zeigen, Alltag veranschaulichen. Manchmal nehmen sie auch ein Mikrofon in die Hand, erzählen aus ihrem Grünauer Leben und von dem, was den Stadtteil für sie ausmacht. Über die Kopfhörer hören die Zuschauer ebenfalls Geschichten, Gedanken und Erinnerungen aus der Gegend.
Grünau, so tönt es am Ohr, spricht man mit langem ü und kurzem au, und es ist ein großes Dorf. Die Stimmen erzählen Geschichten vom Leben, von der Kindheit, davon, wie man hingezogen oder auch einfach dort aufgewachsen ist. Sie sprechen von Toleranz, aber auch vom Gegenteil. Eine Männerstimme erzählt von einer freien Kindheit, von Streichen und Freundschaften. Während man lauscht, beobachtet man, wie sich die Anwohner auf den Balkonen einrichten. Eine große Taube, die wie die anderen Darsteller Kopfhörer trägt, geistert herum, während eine Mutter mit ihren Töchtern eine Schaufensterpuppe aufbaut. Man hat wirklich den Eindruck, Alltag zu beobachten, Bier wird getrunken, ein Sonnenschirm spendet dabei Schatten, und ein Stockwerk tiefer genießen Pflanzen und ein Wellensittich die Pflege einer aufmerksamen Dame. Eines der Mädchen geht Wäscheaufhängen.
Eigentlich passiert dauernd und überall etwas, sowohl visuell als auch auf der Tonspur, so dass man manchmal fürchtet, etwas Wichtiges zu verpassen. Vielleicht liegt der Zauber aber weniger in den einzelnen Details als im facettenreichen Gesamtbild, das sie ergeben. Ein Balkonbewohner berichtet von Vernetzung, eine andere vom Gefühl, sich hier erst einmal beweisen zu müssen. Manche spüren die Gemeinschaft, andere fühlen sich einsam.
Von Grünau, so entsteht der Eindruck, wurde erst positiver berichtet, als es war. Nach der Wende wurde es dann verteufelt. Irgendwo dazwischen liegen die Geschichten, die man über den Kopfhörer vernimmt. Sie befinden sich fernab der gängigen Erzählung über Grünau, weit weg von den Klischees. Sie klingen nach echtem Leben und machen die Performance authentisch. Und so wirkt es schon fast symbolisch, wie die Installation wahrgenommen wird: Körperlich dicht aneinander auf kleinem Raum, aber durch die Kopfhörer ist jeder auch für sich.

Miriam Heinbuch

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 23.07.2016


Studio Urbanistan: „Looking at the window is like looking inside you“
Weiterer Termin: 17. September, 18 Uhr, Treffpunkt Deiwitzweg 13 (hinterm Haus),
Eintritt frei, Spende willkommen,
Reservierung erforderlich unter: info@studiourbanistan.de
Informationen unter www.raster-beton.de,www.studiourbanistan.de


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