„Dreierlei Einsamkeit“

Eher leise als laut gelingt Viola Kowski mit „Heul doch!“ im Theatrium ein bewegendes Jugend-theaterstück über Depressionen
Kulturkritik der „Szene Leipzig“ (Leipziger Volkszeitung) vom 11.04.2011:

Die Idee ist gut und wohl formuliert. „Wenn ich doch nur den Schatten von deiner Seele zaubern und eine heitere Blume in ihr säen könnte“, seufzt Hans. Ob er nicht kann, weil sich die tiefe Traurigkeit, die die Nachbarin Susanne plagt, eben nicht schnell wegplappern lässt, oder darum nicht, weil er viel zu viel mit sich selbst beschäftigt ist, bleibt in „Heul doch!“ offen. Die Autorin und Regisseurin Viola Kowski stellt mehr Fragen, als dass sie Antworten gibt – zum Glück. Nur so kann das Jugendstück über Depression, das am Freitag im mit 80 Zuschauern ausverkauften Theatrium Premiere hatte, dem schweren Thema gerecht werden.
Ebenso spielt Sarina Radomski berührend unaufdringlich, wie sich ihre Susanne von der Welt in ein Universum der Lethargie und Verzweiflung verabschiedet. Dreimal muss Hans (Georg Herberger) Sturm klingeln, bis Susanne aufhört, auf den Boden zu starren, sie die Tür öffnet, abwesend und abweisend. „Haste mal ’n Ei?“, die Unbeholfenheit, mit der Hans in Susannes Einsamkeit bricht, besitzt Klamauk-Qualität.
Erst recht braust Almut Koch als dritte Nachbarin Antje Leoni mit toll gespieltem Ungestüm in diese abgeschiedene Kapsel namens Zweiraumwohnung. „Ich bin echt am Ende!“, poltert sie. Kein einziger sauberer Schlüppi sei ihr geblieben, seit ihr Freund Ferdinand mit der Waschmaschine verzischt sei. Oft noch werden die ungebetenen, aber irgendwie sehnsuchtsvoll erwarteten Treppenhaus-Bekannten Sachen sagen, die eher auf die suizidgefährdete Susanne passen.
„Alter, du hast mir das Leben gerettet“, ruft Antje und dankt damit für die Gelegenheit, ihre Wäsche zu waschen. „Alter, wer bist du denn?“, habe sie sich mal beim Blick in den Spiegel gefragt, erzählt sie, nachdem sie zugenommen und das Haar neu gefärbt hatte. Hans schreit Susanne an, dass er genug eigene Probleme habe – „die Sache mit dem Kuchen zum Beispiel“. Den will er für seinen Neffen backen, der am nächsten Tag zu Besuch kommt. Nur fehle ihm ja das Ei.
Bei aller Situationskomik hat man es hier aber nicht mit einer, sondern drei Gescheiterten zu tun, mit dreierlei Einsamkeit. Wobei schon Tobias Stolles Bühne verdeutlicht, dass Scheitern keine Schichtfrage ist. Das Dia, das im Hintergrund zeigt, wie der Tag vergeht, bildet keine Platte in Grünau ab, dem Viertel, in dem das Theatrium beheimatet ist, sondern einen Altbau. Depressionen gedeihen überall. Deren kleine Schwestern ebenfalls. Antje ist nicht zum ersten Mal von Liebeskummer befallen, Hans hat studiert, sortiert aber jetzt die Bierdeckel einer Kneipe. Allein Susanne steckt aber so tief im Schlamassel, dass sie trotz des andauernden Aneinander-Vorbei-Redens plötzlich feststellt: „Vielleicht ist das ein guter Nachmittag gewesen.“
Bevor das knapp anderthalbstündige Stück zwischendurch doch eine Spur zu langatmig um Alltagsprobleme kreist, die ja doch nicht erklären, warum jemanden die Schwermut so sehr befällt, puzzeln die drei eine depressive Kulturgeschichte von Nietzsche („Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“) bis Gisela Steineckert, die für Karussell „Als ich fortging“ dichtete. Grönemeyer preist den Alkohol, Tom Waits beklagt den November, schließlich spricht Susanne wirr die Worte von Shakespeares Ophelia in deren letzten Stunden. „Ich bitte euch, liebes Herz, gedenkt meiner!“ Antjes Schrei ist entsetzlich, als sie Susanne entdeckt.
Zum Heulen ist da auch manchem Zuschauer zumute, anders als den Theatermachern – nicht nur wegen des stürmischen Applauses. Nach Protesten verwirft die Stadt ihre Sparidee, die Finanzierung eines Kindertheaterprojekts und des Weihnachtsmärchens zu streichen. Vier Monate nach dem Umzug in eine neue Bleibe kann das Ensemble alle seine Pläne verwirklichen. Mathias Wöbking

Nächste Aufführungen von „Heul doch!“:
Dienstag, 12. April, 10 Uhr
Freitag, 17. Juni, 10 und 20 Uhr
Samstag, 18. Juni, 20 Uhr
im Theatrium (Alte Salzstraße 59).
Diesen Freitag (15. April), 20 Uhr, letztmals Viola Kowskis „Infaust“.
Karten für 7,50/4,50 Euro telefonisch unter 0341/9413640

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 11.04.2011