„Die Platte lebt“

In Großwohnsiedlungen wie Berlin-Marzahn und Leip-zig-Grünau gab es jahrelang nur Wegzug und Abriss. Jetzt wird dort wieder neu gebaut.
„Die Welt“ – Artikel vom 05.06.2016

Einen zufriedeneren Mieter als Bernd Langrock kann man sich kaum vorstellen. „Wir leben gern hier“, sagt der 68-Jährige, der zusammen mit seiner Partnerin vor knapp einem Jahr eine großzügige Dreizimmerwohnung in Leipzig-Grünau bezogen hat. Dass es ihm darin gefällt, kann man gut verstehen. Mit ihren hellen Räumen, dem Parkett und dem großen Balkon bietet sie besten Neubaukomfort. Die Leipziger Innenstadt ist nicht weit, und der Kulkwitzer See, ein beliebtes Naherholungsgebiet, liegt quasi vor der Haustür. „Ja, wir sind sehr zufrieden“, bekräftigt Langrock. Dass in der größten Plattenbausiedlung Sachsens neue Wohnungen wie die von Bernd Langrock entstehen, war bis vor Kurzem undenkbar. Seit den 90er-Jahren wurden in den Großwohnsiedlungen wie Berlin-Marzahn, Halle-Neustadt und Leipzig-Grünau Tausende Wohnungen abgerissen, teilweise verloren die Viertel mehr als die Hälfte ihrer Bewohner. Nun aber zeigt sich ein spektakulärer Paradigmenwechsel: An den Standorten wird neu gebaut, Mieter kehren zurück.
So hat die städtische Wohnungsbaugesellschaft Wiro im Rostocker Plattenbauviertel Groß Klein 2014 einen Neubau mit 39 Wohnungen fertiggestellt. In Berlin-Marzahn will das landeseigene Wohnungsunternehmen Degewo in den kommenden vier Jahren rund 900 Wohnungen errichten.
Der Neubau, in dem Langrock wohnt, ist nur eines von mehreren Aufbauprojekten in Leipzig-Grünau. Die Anfänge Grünaus hat der Rentner noch miterlebt. Damals waren die Wohnungen in den neuen Plattenbauten sehr gefragt. 1979 zog Langrock zusammen mit seiner damaligen Frau in die Siedlung, deren Grundstein am 1. Juni 1976 gelegt worden war, vor 40 Jahren also. Nach der Wende beobachtete Langrock, wie Grünau ausblutete. Viele Bewohner gingen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz in den Westen; wer in Leipzig blieb und es sich leisten konnte, zog entweder ins Eigenheim im Grünen oder in die Gründerzeitviertel der Innenstadt. Zurück blieb weniger als die Hälfte der Bewohner. Während zur Wendezeit 85.000 Menschen in Grünau gewohnt hatten, waren es 2011 nicht einmal 40.000.
Damit teilte Grünau das Schicksal anderer DDR-Großwohnsiedlungen. Stadtteile wie Halle-Neustadt, Berlin-Marzahn und Rostock-Lichtenhagen, die mit ihren modern ausgestatteten Wohnungen zu DDR-Zeiten äußerst begehrt waren, drohten sich nach der Wende zu sozialen Brennpunkten zu entwickeln. Dem gefährlich ansteigenden Wohnungsleerstand begegneten Bund und Kommunen mit dem Programm „Stadtumbau Ost“. Viele Millionen Euro an Fördermitteln flossen in den Abriss nicht mehr benötigter Wohnhäuser. Allein in Leipzig-Grünau wurden so rund 9.000 Wohnungen – ein Viertel des ursprünglichen Bestands – „vom Markt genommen“, wie die Verantwortlichen den Abriss beschönigend nannten.
Mittlerweile aber hat sich der Wind gedreht. Die Leipziger Wohnungsgenossenschaft Lipsia ging das Wagnis ein, 2014 am Standort abgerissener Plattenbauten mit dem Bau der Kulkwitzer Seeterrassen zu beginnen. Entstanden sind drei Wohnhäuser mit modernen, barrierearmen und komfortablen Wohnungen – darunter diejenige, in der sich Bernd Langrock so wohl fühlt. Der erste Wohnungsbau in Grünau seit dem Ende der DDR erwies sich als großer Erfolg. „Wir hätten noch mehr Wohnungen vermieten können“, sagt Lipsia-Vorstand Kristina Fleischer.
Jetzt will die Lipsia noch einen Schritt weitergehen. Ende 2017 sollen in der Brackestraße die Bauarbeiten für das erste Hochhaus in Grünau seit fast 30 Jahren beginnen. Das Angebot von Ein- bis Dreiraumwohnungen für 8,80 bis 9,50 Euro pro Quadratmeter wird sich in erster Linie an ältere Menschen richten. Aus Sicht der geplagten Mieter in den Szenevierteln von München, Hamburg oder Berlin sieht das wie ein Schnäppchen aus. Doch in Grünau waren sanierte Plattenbauwohnungen bislang schon für weniger als fünf Euro pro Quadratmeter zu haben. Für Bernd Hunger, den Leiter des in Berlin ansässigen Kompetenzzentrums Großsiedlungen, ist das trotzdem eine Erfolg versprechende Strategie. „Der Neubau“, sagt er, „ermöglicht es, Wohnungstypen zu schaffen, die in den großen Siedlungen bisher nicht vorhanden waren. Das trägt zum Zuzug bei.“
Dennoch mutet es paradox an, dass in Vierteln, in denen noch vor Kurzem mit öffentlichen Mitteln Wohnraum vernichtet wurde, jetzt neu gebaut wird – und zwar auf exakt denselben Flächen. Doch Wilhelm Grewatsch, Vorstandsvorsitzender der Lipsia, hält die damalige Entscheidung, Wohnungen abzureißen, auch heute noch für richtig. Denn wenn ein Gebäude über Jahre hinweg nicht genutzt werde, verfalle es. „In Grünau gibt es zu viel Plattenbau“, sagt Grewatsch. Es sei wichtig, neue Wohnungsangebote zu unterbreiten, die sich in den bestehenden Gebäuden selbst bei aufwendigem Umbau nicht schaffen ließen.
„Der Verzicht auf Abriss hätte das Stadtbild sehr negativ beeinflusst und zu noch mehr Leerzug geführt“, bekräftigt Sebastian Pfeiffer, Stadtumbaumanager in Grünau. Zudem habe der Abriss in den teilweise dicht bebauten Siedlungen neue „Aufenthaltsqualitäten“ geschaffen. Pfeiffer demonstriert das am Beispiel des Urbanen Waldes, der an der Stelle eines abgerissenen Plattenbauriegels entstanden ist, und an den Kolonnaden in der Alten Salzstraße, wo sich Anwohner seit Jahren um einen aufwendig angelegten Garten kümmern.
Skeptischer beurteilt Experte Hunger den Abriss. Die 16-geschossigen Punkthochhäuser in Grünau würde man heute nicht mehr abbrechen, ist er überzeugt. Sie hätte man nach seiner Ansicht gut sanieren und darin kleine, seniorengerechte Apartments schaffen können. Heute fördert die Stadt Leipzig – von einer Ausnahme abgesehen – den Abriss nicht mehr. Das hängt mit der veränderten Nachfrage in den ostdeutschen Großstädten zusammen. Ob in Leipzig, Rostock oder Berlin: Überall haben sich die Einwohnerzahlen positiver entwickelt als vorhergesagt. Davon profitiert auch das einstige Krisengebiet Grünau. Seit 2012 steigt die Einwohnerzahl wieder und beträgt jetzt rund 43.000. Bis 2025 könnten hier zwischen 46.000 und 50.000 Menschen leben.
Doch wer zieht in die Großsiedlung? Sind es Mieter wie Bernd Langrock, die sich eine komfortable Neubauwohnung leisten können? Oder sind es Haushalte mit geringem Einkommen, die dorthin ausweichen, wo es eine Dreizimmerwohnung für eine Kaltmiete von 270 Euro gibt? „Die Bandbreite der Interessenten ist sehr groß“, antwortet Nicole Brumme vom Maklerunternehmen Pisa Immobilienmanagement, die im Auftrag privater Eigentümer Wohnungen in Grünau vermietet. Sie beobachtet, dass mittlerweile mehr Studierende und Auszubildende nach Grünau ziehen. Stadtumbaumanager Pfeiffer glaubt sogar zu wissen, dass sich Kreative Richtung Platte orientieren.
Das würde dem Stadtteil zweifellos gut tun. Denn das Durchschnittsalter in Grünau beträgt 49 Jahre – und damit sechs Jahre mehr als in Leipzig. Im Wohnkomplex II, der ein besonders hohes Durchschnittsalter aufweist, haben die Verantwortlichen deshalb einen Kontrapunkt gesetzt. Der Verein Urban Souls betreibt dort eine große Skaterhalle, die eng mit den örtlichen Schulen zusammenarbeitet.
Über die wirtschaftlichen Probleme der Wohnungsvermieter kann das nicht hinwegtäuschen. Brumme beziffert den Leerstand in Grünau auf rund zehn Prozent. Entsprechend oft werben die Vermieter mit Sonderangeboten wie etwa einem Umzugsbonus oder einem Ikea-Gutschein. Auch die soziale Mischung „stellt sicherlich eine Herausforderung dar“, wie Stadtumbaumanager Pfeiffer einräumt. Was das heißt, verdeutlicht der Tätigkeitsbericht des Quartiersmanagements: „In Grünau lebt ein großer Anteil von Kindern und Jugendlichen von Transfergeld und mit nur einem Elternteil.“ Als Folge davon komme es verstärkt zu emotionaler Verwahrlosung, Schulabbrüchen und Suchterkrankungen.
Trotzdem ist Leipzigs Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau optimistisch. Für sie ist Grünau „ein immens vielfältiger, integraler Teil der Gesamtstadt, der sich sehr positiv entwickelt“. Auch Lipsia-Vorstand Kristina Fleischer ist überzeugt, dass „Grünau ein Gebiet sein wird, wo die Menschen gern hinziehen“. Gefährlich sei es allerdings, in den großen Siedlungen nur ärmere Menschen unterzubringen, mahnt der Berliner Experte Hunger: „Die Zukunft dieser Siedlungen hängt von der Belegungspolitik ab.“

Christian Hunziker

Quelle: „Die Welt“ vom 05.06.2016