„Die Kids wollen sich dem aussetzen“

Am Samstag hat „Der Jubilar“ Premiere im Theatrium – ein Stück über Kindesmissbrauch – LVZ 08.06.2016 :

Harmloser kann ein Titel kaum klingen: „Der Jubilar“ heißt die Inszenierung, die am Samstag-Nachmittag im Theatrium Premiere hat – und mit dem die Grünauer Kinder- und Jugend-bühne sich auf riskantes Terrain begibt. Formal ein zweiteiliges Mehrgenerationen-Stück, geht es inhaltlich ein Thema an, das alles andere als harmlos ist: den sexuellen Missbrauch von Kindern.


Missbrauchte Kinder werden zu Gefangenen ihrer Geschichte: Probenszene „Das Geheimnis“, Teil 1 „Jubilar“-Inszenierung.


Ein Thema, das, so Kathrin Großmann, neben Anne Rab Initiatorin und künstlerische Leiterin dieses Projektes, „einen geradezu verrückt machen kann, wenn man immer wieder lange und intensiv mit Kindern und Jugendlichen arbeitet“. Außerdem ein Thema, das diesen Kindern und Jugendlichen selbst auf den Nägeln brennt: „Wenn man die fragt, was fändet ihr spannend für ein nächstes Stück, was beschäftigt euch, was geht euch im Kopf rum, taucht das immer wieder mit an erster Stelle auf.“
Sexueller Missbrauch von Kindern durch nächste Verwandte, durch unmittelbare Vertraute. Das ist der inhaltliche Kern, um den es in „Der Jubilar“ geht. Zum Gespräch mit Rab und Großmann sitzt im Theatrium auch Beate Roch, Chefin des Hauses und bei dieser Inszenierung für die theaterpädagogische Betreuung verantwortlich, mit am Tisch. Roch kennt die einschlägigen Missbrauchsstatistiken, nennt bittere Zahlen und mag über die Dunkelziffern dahinter gar nicht erst nachdenken. Denn ja: Es kann einen geradezu verrückt machen.
Und dennoch: „Was man oft nicht glauben mag – die Kids haben Bock auf solch ernsthafte Themen“, betont Rab, und Großmann fügt hinzu: „Die wollen sich dem aussetzen, auch um ja was eigentlich Unbegreifliches zu begreifen, was Unfassbares zu packen.“
„Es geht uns natürlich auch darum, Strategien zu zeigen, wie man damit umgeht“, erklärt Roch eine der Intentionen dafür, sich dieser Thematik auszusetzen und zitiert die Hoffnung der zwölfjährigen Josefine, einer der Darstellerinnen im Stück: „Wenn ein betroffenes Kind im Publikum sitzt, hilft das dem vielleicht.“
Was für ein Glaube ans Theater! Und doch bleibt die Frage: Wie geht man so ein Stück an mit jungen Laien auf der Bühne, die eben nicht über die schauspielerischen Techniken verfügen, mit denen man Extrem-Emotionen darstellerisch bewältigen kann, ohne von ihnen überwältigt zu werden.
Rab: „Im Grunde zeigen die Kinder ziemlich deutlich, wie weit sie gehen wollen.“ Nur muss man wohl aufpassen, dass sie dabei nicht weitergehen, als sie können: „Es kam im Probenverlauf dieser Punkt, an dem die Emotionen plötzlich losbrachen. Da gab es viele Tränen und Schmerzpunkte, auch für uns Erwachsene. Und da war schon auch der Gedanke: Wir müssen das abbrechen.“
Nur, dass das keiner wollte. Und am aller wenigsten die Kinder auf der Bühne. Es gab ein „Gesundheulen“ – und danach ging es wieder an die Arbeit, mit einem „Professionalitätsschub“, einem geschärften Bewusstsein für dieses „Ich spiele eine Rolle“ und die Arbeit, die es bedeutet, sich in eine solche zu finden. Roch: „Wir hatten dann noch eine öffentliche Probe für die Eltern gemacht und ein absolut positives Feedback.“
In zwei Teile wird sich also die Inszenierung spalten. Zuerst mit den 8 bis 13-Jährigen ein Kinderszenario (Leitung: Anne Rab) ausbreitend, das in der Vorzeit des Zweiten Weltkriegs angesiedelt ist – um dann mit einem Zeitsprung diese Kinder als Erwachsene, gleichsam Gefangene ihrer Geschichte zu zeigen (Leitung: Kathrin Großmann). Die ins Missbrauchs-Sujet installierte Historizität schulde sich, so Großmann, dabei weniger etwaigen politischen als vielmehr dramaturgisch- theatralen Aspekten. Zum einen bieten sich für die Theatrium-Werkstätten unter Leitung Oliver Viewegs reizvolle Möglichkeiten, Kostüme und Settings dieser vergangenen Zeiten in Szene zu setzen. Zum anderen zielt diese Distanz quasi über einen Umweg direkter auf ein Kernanliegen der Inszenierung: Die Scham und das Schweigen zu zeigen, in dem diese Opfer sexueller Gewalt häufig gefangen sind und daran zerbrechen, sogar Jahrzehnte später noch. Beides, Scham und Schweigen, existiert fraglos auch heute – aber eben nicht in der Vehemenz wie einst. Diese Vehemenz aber darstellen zu können, fungiert als Katalysator der Enttabuisierung, gegen das Schweigen und das Wegschauen. Großmann: „Uns geht es generell darum, Aufmerksamkeit zu fördern, Mut zu machen, hinzuschauen. Und Nein zu sagen, Vertrauen zu haben.“
Denn was da eben auch missbraucht wird, ist ein Urvertrauen; es ist die Gabe, überhaupt vertrauen zu können, die meist irreparabel zerstört wird. Auch was das heißt, versucht „Der Jubilar“ zu zeigen. Bis zur letzten, zur bitteren Konsequenz.
Vielleicht genau darin liegt auch die Möglichkeit, dass Vertrauen aufgebaut werden kann: Hört man den Machern dieses Stückes zu, überkommt einen der Anflug einer Hoffnung, dass Theater das tatsächlich immer noch vermag.
Premiere am Samstag um 17 Uhr (ausverkauft), zweite Vorstellung am Sonntag zur selben Zeit, mehr dazu auf der Seite www.theatrium-leipzig.de

Steffen Georgi

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 08.06.2014