„Die Befreiung aus der Angst“

Gefeierter Mut: Das Theatrium thematisiert in „Der Jubilar“ beeindruckend sexuellen Kindesmissbrauch – LVZ vom 14.06.2016:


Unheimliches Traumbild: der Täter (Falko Köpp) und sein Opfer Irene, eindrucksvoll gespielt von Josephine Schmidt.


Der Vorhang im Theatrium hat sich gerade geschlossen. Die Zuschauer erheben sich einzeln, bis alle stehend applaudieren, manche begeistert johlen. Das Echo auf starke Darsteller-Leistungen im Mehrgenerationen-Projekt „Der Jubilar“, das am Wochenende Premiere feierte. Nicht zuletzt eine Belohnung des Mutes, Theaterstoff aus einem schwierigen Thema zu weben: den sexuellen Missbrauch von Kindern.
Schon die – scheinbar – leere Bühne steht als eines von vielen Sinnbildern. Mit langer Tafel vor einer aschgrauen Wand und exponiertem Stuhl in der Mitte gleicht es dem letzten Abendmahl Christi. Unter der wallenden Tischdecke wuselt ein Dutzend Kinder hervor – mit geweißten Gesichtern und Kleidung aus lang zurückliegender Zeit, wie Boten aus einer Vergangenheit, in der man noch flächendeckend frömmelte, in der Gott ebenso Angst machte wie ein gewisser Troll, der sich die Kinder holt. Ein lebendes Gemälde in schwarz-weiß wie in Michael Hanekes Film „Das weiße Band“. Quirlig und doch gruselig, fabelhaft in hellstes Licht gesetzt (Tobias Stolle/Roger Biedermann). Hier, im Vorfeld zur Geburtstagsfeier des Hausherren, wird getobt, geprügelt, gerätselt. Dass dieser sich an seinen Kindern Irene und Gerd vergreift, ist herauszuahnen. Gelegentlich bekommt das Längen, atmosphärisch aber ist das nicht zu toppen. Dem ersten Teil, „Das Geheimnis“, unter Leitung von Anne Rab folgt ein von Kathrin Großmann geführter Zeitensprung, „Der Troll“. Die Kinder von damals sind erwachsen, der Hausherr bekommt durch Falko Köpp eine gebeugte, lauernde Gestalt. Ein abstoßender Patriarch, der Widerspruch hasst und scheinheilig verlangt, die gerade beerdigte Tochter Irene zu würdigen. Nach all den Jahren des Schweigens kommt es durch den Selbstmord zur Abrechnung, die auch andere Wahrheiten hervorholt, wie die verheimlichte Trennung von Greta und Ole oder die Erfolglosigkeit der Akademikerin, die als Taxifahrerin arbeitet. Sohn Gerd gesteht dem Erzeuger, dass er sein Geld durch den Verkauf von Kunst-Penissen verdient.
Ein etwas abstruses Vehikel, um den Showdown voranzutreiben, der – und das ist das Manko dieses Stücks – zu früh, unvermittelt und dramaturgisch nicht schlüssig einsetzt. Die Befreiung aus der jahrelangen Angst, der innere Kampf zwischen Aufmüpfigkeit und Unterwerfung gegenüber den Manipulationen des Machthabers, das ist fühl- und denkbar – , die Spannungslinie zieht sich aber zu schnell hoch und bekommt mit nachlassendem Tempo einen leichten Bauch.
Trotzdem – die über 40 Mitwirkenden schaffen es, Beklemmung aufzubauen und sie mit komischen Intermezzi zu brechen. Künstlerisch anspruchsvoll wird das durch Überblendungen, Musik und unheimlichen Traumbildern. Wenn der Hausherr sich selbst als Opfer darstellt, entspricht das der Psychologie solcher Täter. Sein Zitat des Nazi-KZ-Spruchs „Arbeit macht frei“ deutet auf das generelle, unheilvolle Muster auf dem weiten Feld zwischen Verblendung, Gewalt,
Schweigen und Weggucken hin. Und so sehr sich eins der Mädchen auch bemüht, die beschmutzte Tischdecke der langen Tafel bekommt es nicht mehr weiß. Am Ende siegt der Mut, die Seele geöffnet zu haben – und der Geist Irenes, der den Sexualtäter verstummen lässt.

Nächste Vorstellungen am 24. und 25. 9., je 17 Uhr.

Mark Daniel

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 14.06.2016


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