„Das Gespür für Freiräume“

Schulleiter sind Bildungsmanager mit Personal-not / Vielen Lehrern ist das Amt zu gefährlich

Schule ist Lernen, Ausfall, Tarif-Ärger, Projekte, Geldnot, Reformen – ein ganz normaler Wahnsinn. Gemanagt von Schulleitern. Die guten bringen die Interessen der Bürokratie mit denen der Kinder zusammen. Ein Job mit Personalnot.

Morgens empfängt Margrit Hanisch in ihrem Kabuff die Mails der Bildungsagentur. Draußen auf dem Flur der Max-Klinger-Schule in Leipzig lärmen die, für die solche Schreiben nur das Beste wollen. Denn letztlich dient ja alles Bürokratische nur einem Ziel: der Bildung. Dennoch stehen Direktoren wie Wächter am Schulportal und lassen staatliche Bildungshoheit auf das wahre Leben los. Natürlich nicht ungefiltert. Ein gefährlicher Posten, der zerreißen kann. Für viele zu gefährlich. „800 Schulleiter fehlen bundesweit, weil Ausbildung und Arbeitszeitregelung oft mangelhaft sind. Rechtlich ist vieles ungeklärt“, sagt Walter Rossow, Sprecher des Bundesverbandes.
Für Margrit Hanisch ist zumindest klar, dass ihre Tage nur ein grobes Termingerüst vertragen. Schulleben ist eine Baustelle. Es braucht Raum zum Improvisieren. An diesem Tag unterrichtet die gelernte Mathelehrerin nicht selbst, dafür reihen sich Gespräche im Stundentakt. Als erstes kommt der „Pitko“, der pädagogische IT-Koordinator. Der Informatik-Lehrer, Webmaster und Systembetreuer erklärt seiner Chefin ein Programm. Der IT-Mann hat die Schule vernetzt, Computer- und Medienräume eingerichtet. Der Standard sucht seinesgleichen.
Auch der Standard des kulturellen Schullebens offensichtlich. Die Lehrerakademie möchte eine Präsentation. Die Chefin berät mit zwei Fachlehrerinnen. Das klingt nicht nach Kerngeschäft, das in Zwangsteilzeit leicht zu erledigen wäre. „Ich bin bei solchen Anlässen wählerisch. Aber wir sind gebeten worden. Wir haben einiges zu bieten“, erklärt Margrit Hanisch und meint die Chöre, die Ausstellungen, den Kleinkunstpreis. Eine Kollegin kombiniert die Fahrt zum Symposium mit der Begleitung einer Schülerin zur Bewerbung um ein Stipendium für sozial Schwache. Deren Eltern können nicht. So eine Episode sagt viel über Lehrermotivation. „Man könnte die Nase so was von voll haben. Aber wenn wir vor der Klasse stehen, gehts nur um die Schüler“, sagt eine Lehrerin im Rausgehen.
Die Schulleitung mit drei Zimmerchen ist ein Taubenschlag. Die Türen stehen offen, damit die Räume größer wirken. Margrit Hanisch sieht sich zwar wie der Geschäftsführer eines mittelgroßen Unternehmens. 657 Schüler und 82 Lehrer sind ihr unterstellt. Das Chefzimmer versprüht indes den Charme einer Pförtnerloge. Doch ihre Autorität braucht keinen schweren Schreibtisch. Sie speist sich aus Zuhören, Verständnis, Authentizität und klaren Ansagen. Das zeigen die folgenden Gespräche über einen Schüleraustausch mit Tschechen und die festliche Ausgabe der Abi-Zeugnisse. Margrit Hanisch hört zu, gibt Anregungen, lobt, fordert, lässt freie Hand, fragt nach. „Feiern wir gegen ein Spiel der Fußball-WM an?“ Mehr Plaudern ist nicht.
Keines der Gespräche braucht die kalkulierte Stunde. Dazwischen telefoniert sie, klärt Schülerwechsel und sucht für eine Veranstaltung eine Aula. Einen Festraum haben die zwei Plattenbauten nicht. Die bieten tropische Hitze im Sommer, Regenwasser auf den Fluren, Luftzug durch verwitterte Fenster – moderne Schule in den Kulissen der 80er. Der Neubau muss warten – wegen der Krise und der Konjunkturprogramme. Das klingt nach Antagonismus und ist auch einer, wie so vieles im Schulsystem.
Doch darüber denkt Margrit Hanisch nicht nach. Es lohnt nicht. Dafür hat sie zu viel erlebt. Die 59-Jährige wurde 1973 Lehrerin. 1992 bewarb sie sich um ein Direktorenamt und bekam eines. Aus dem Stand, ohne Ausbildung. Die Klingerschule ist ihr drittes Gymnasium. Heute bildet die unausgebildete Schulleiterin selbst Schulleiter fort. Weil sie es kann. Einst wollte sie Chefin werden, weil sie glaubte, Gestaltungsspielräume zu haben, um Kinder zu fördern und zu stärken. In ihrem 18. Jahr als Chefin wünscht sie sich mehr Mitsprache, mehr Selbstständigkeit für die Schule. Sie würde Lehrer für bestimmte Aufgaben gern selbst einstellen. Doch Personalhoheit hat sie nicht. Sie verfügt über einen Jahresetat von 60000 Euro – für Kleinstausgaben. Dann diese ständige Unruhe, weil eine Reform die nächste jagt. „Manchmal wünsche ich mir, dass nicht so sehr in unsere Arbeit hineinregiert wird“, sagt sie und relativiert schnell: „Ich bin eine, die immer sucht, welche Freiheiten mir das System bietet.“ Es scheint einige zu geben, sonst wäre eine wie Margrit Hanisch nicht gern Schulleiterin. Sie hat in Englisch zeitweise die 6. Klassen halbiert. Sie lässt ihren Lehrern Freiheit und fordert Verantwortung. Und sie lässt nichts auf die Joghurt-Pause kommen.
Die wird halb zwölf eingeschoben. Im Sekretariat warten vier kranke Schüler auf ihre Abholung. Im Raum daneben löffeln vier Damen aus kleinen Bechern. Dabei geht’s ums Wetter, um den Rücktritt des Bundespräsidenten („Ich hätte auch schon tausend Gründe gehabt, hinzuschmeißen.“), aber nicht um die Arbeit. Das Kantinengesetz gilt auch für die Löffelpause. Und Regeln sind für Margrit Hanisch da, um eingehalten zu werden.
Nach dem „Mittag“ erklärt sie den Kollegen die Änderungen der Teilzeitverträge. Eine Fortsetzung haben sich Sachsens Lehrer nicht aufzwingen lassen. Jetzt können sie ihr Pensum selbst wählen – bis maximal 26 Wochenstunden. Was etwa die Hälfte will. Damit bekommt die Klingerschule Raum für individuelle Förderung und besondere Lernformen. Ausfall dürfte seltener werden. Das klingt schon mal gut. Klarheit gibt es erst kurz vor Schuljahresbeginn. Für Planung zu kurz. Nicht aber für Margrit Hanischs Gespür für Freiräume. Andreas Friedrich

Quelle (Text + Foto): Leipziger Volkszeitung vom 07.06.2010

Anmerkung:
Das Klinger-Gymnasium ist Mitglied im Bildungsverbund „Initiative Campus Grünau“, der sich übergreifend mit der Weiterentwicklung des Themas Bildung in Grünau beschäftigt.