Amtsleiter Gerkens geht heute in Ruhestand

27 Jahre lang leitete der rebellische Lüneburger die Stadterneuerung in Leipzig /
Hiesige Erfindungen machten bundesweit Schule
(LVZ vom 29.08.2018)

Sein ganzer Stolz: Mit einem speziellen Fonds hatte Karsten Gerkens den Kanaldurchstich zum Lindenauer Hafen und den Bau eines Wohngebietes ermöglicht. Foto: André Kempner

Im Leipziger Rathaus endet heute eine Ära. Am Vormittag wird Karsten Gerkens in den Ruhestand verabschiedet. Später soll es am Bürgerbahnhof Plagwitz noch eine private Party geben. Seit 1991 – also genau 27 Jahre lang – leitete er das Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung (ASW). Der gebürtige Lüneburger und studierte Architekt hatte dieses Amt überhaupt erst aufgebaut.

Ohne ihn und seine etwa 80 Mitarbeiter wäre Leipzig nach der Wende sicher nicht zur deutschen Stadterneuerungshochburg mit 550 Hektar Sanierungsgebietsflächen geworden.
Das ASW sorgte unter anderem dafür, dass bis heute mehr als 2,4 Milliarden Euro an Städtebau- und Wohnungsbaufördermitteln von EU, Bund und Land an die Pleiße flossen. Bei der Gebäudesicherung konnte Leipzig soviel Geld einsetzen wie Dresden und Chemnitz zusammen. „Und jeder Euro Fördergeld zieht im Schnitt sieben Euro an weiteren, privaten Investitionen nach sich“, erzählt der Fachmann dazu gern.

Dabei ist ihm Zahlenhuberei eigentlich ein Groll und Gerkens selbst nie auf dem Amtsschimmel geritten. Im Gegenteil: Es war wohl gerade sein rebellisches, extrem engagiertes und bürgernahes Wesen, das ihn einst nach Leipzig verschlug. Schon als junger Bursche hatte er in Hamburg und Hannover für Mieterrechte gestritten, war (ebenso wie der spätere Grünen-Chef Jürgen Trittin) Sympathisant im Kommunistischen Bund Norddeutschlands.

Nach Stationen als Architekt und Sanierungsträger lieh ihn die Landesentwicklungsgesellschaft Nordrhein-Westfalen 1990 nach Karl-Marx-Stadt aus – kurz vor der Rückbenennung zu Chemnitz. Die Stadtagentur, wo er tätig war, wirkte dann an der Aufdeckung eines Korruptionsfalls in der Chemnitzer Rathausspitze mit. Deshalb gab es dort keine Vertragsverlängerung. So nahm er gern das Angebot der Emissäre Rudolf Ahnert und Klaus Ober an, sich in Leipzig als Chef eines neuen Amtes zu bewerben, das die in der DDR völlig ruinierte Bausubstanz retten sollte.

Anfangs wohnte Gerkens in einem alten Bungalow in Grünau. Die Fahrt zum Technischen Rathaus per Straßenbahn nutzte er für Gespräche mit den Einwohnern – und zum Zeitungslesen. „Zwei Jahre später holte ich meine Familie nach.“ Außer beim ersten Sanierungsgebiet in Connewitz, das noch vor seiner Zeit entstanden war, sorgte Gerkens dafür, dass die Entwicklung der 16 weiteren Sanierungsgebiete nicht mehr privaten Firmen übertragen wurde. „Dieses Westmodell war für die ungleich größeren Probleme im Osten wenig geeignet“, erklärt er. „Leipzig verlor in den ersten Jahren nach der Wende 100 000 Einwohner – die Hälfte davon zog ins Umland, wo es genug Bauland und mehr Grün gab. Das konnten wir nur mit einer Stadterneuerungspolitik stoppen, die Freiräume zur Entfaltung in den Quartieren und damit eine Bindung schafft. Unsere Politik musste von breiter Akzeptanz der Einwohner getragen sein. Deshalb führten wir die Sanierungsgebiete dann durchweg in eigener Regie.“

Das gelang oft sehr erfolgreich. Die letzten DDR-Pläne, wegen Umweltgiften Plagwitz und Lindenau als Wohnstandort aufzugeben, spielten bald keine Rolle mehr. Stattdessen kehrten 40 000 Einwohner in die wieder aufblühenden Gründerzeitviertel zurück. Das bunte Lindenau ist heute der Stadtteil mit den meisten Kindern. Gerkens Credo lautete, die Bürger sollen mitentscheiden, wo eine Grünfläche entsteht, wie ein Platz gestaltet wird oder ob Gewerbe in lange verlassene Gebäude einzieht. Aus diesen Ideen entwickelte das ASW unter anderem urbane Wälder, es erfand die kostenlosen Beraterarchitekten für Bauwillige, die Selbstnutzerinitiative, direkte Förderung für kleine und mittlere Unternehmen, Zwischennutzungen von Abrissflächen als Mini-Park oder Kunstschauplatz. Im Leipziger Westen und Osten wurden große Quartiersforen gebildet, die eigene Verfügungsfonds erhielten. Quartiersmanager und Arbeitsläden gingen vor Ort soziale Probleme an.

Vieles davon machte bundesweit Schule. Zum Beispiel das ebenfalls vom ASW unterstützte Wächterhausmodell, bei dem Kreative leere Gründerzeitbauten gratis nutzen und so vor weiterem Verfall schützen. In den Jahrzehnten des hohen Leerstands habe Leipzig ein Image als Stadt der Möglichkeiten aufgebaut, mit der Kampagne „Leipziger Freiheit“ auch um nicht so gut Betuchte geworben, betont der scheidende Amtsleiter. „So wie die Entwicklung jetzt läuft – mit Wachstumseuphorie, Verdichtung, Verdrängung und straff steigenden Mieten läuft sie genau dem Typischen dieser Stadt zuwider.“

In 27 Jahren erhielt Gerkens auch Abmahnungen von Vorgesetzten. Wenn es aus seiner Sicht wichtig war, ließ er sich nicht den Mund verbieten: Etwa als er gegen die Schließung des letzten Gymnasiums im sozial benachteiligten Leipziger Osten wetterte. 2017 wurde schließlich in Schönefeld ein neues Gymnasium eröffnet. In Volkmarsdorf soll in Kürze der Bau des nächsten in einem Campus starten.
Inzwischen hat Gerkens fünf erwachsene Kinder, wobei zwei aus einer Patchwork-Ehe stammen. Die Zwänge einer Verwaltung haben ihn nie so sehr bewegt wie die Probleme der Leute vor Ort. So schlug sein Herz nicht für den Abriss von 14 000 Wohnungen, die das ASW um die Jahrtausendwende organisierte. „Aber die damit verbundene Chance auf mehr Lebensqualität in den betroffenen Siedlungen wie Grünau fand ich spannend.“

Es ärgere ihn immens, dass eine Kapitalanleger-Zeitschrift unlängst Lindenau zum Immobilienkauf empfahl, weil es dort angeblich ein besonders hohes Mietsteigerungspotenzial zu nutzen gebe und die Stadt auf Mietbremse oder Erhaltungssatzungen verzichte. „Politik und Stadtspitze müssten deutliche Signale in den Markt schicken, dass sich Geschäftemacher hier nicht alles erlauben können“, fordert der 65-Jährige. Das wohnungspolitische Konzept, um Normal- und Geringverdiener zu schützen, werde viel zu zögerlich umgesetzt. „Leipzig muss nicht die Wachstumshauptstadt in Deutschland sein“, findet Gerkens. „Bei 83 Prozent Mietern wäre es doch aller Ehren wert, sich als besonders mieterfreundliche Stadt zu profilieren.“

Jens Rometsch

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 29.08.2018