?Grünau hat eine Zukunft?

?Grünau hat eine Zukunft?. Sigrun Kabisch übers Wohlfühlen in der Großwohnsiedlung
Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 12.05.2009:

Wohlfühlen in der Großwohnsiedlung Grünau ? seit 1979 beschäftigt sich eine Langzeitstudie mit diesem Thema. Im Juni werden die Bewohner des Stadtteils zum neunten Mal befragt. Stadt- und Umweltsoziologin Sigrun Kabisch vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung hat die Untersuchung von Beginn an begleitet. Im Interview räumt sie mit Vorurteilen auf.

Frage: Plattenbausiedlungen wie Grünau haben nicht den besten Ruf. Möchte dort überhaupt jemand leben?

Sigrun Kabisch: Es gibt dieses Negativ-Image, das sich hartnäckig hält. Auch weil Großwohnsiedlungen häufig mit der DDR-Zeit assoziiert werden. Aber dieser negative Ruf ist der von außen, nicht der von innen. Man muss da klar zwischen der Fremd- und der Eigenwahrnehmung unterscheiden. In Grünau, so zeigt unsere letzte Erhebung von 2004, hat sich die Wohnzufriedenheit stabilisiert. Zwei Drittel der 45 000 Menschen, die dort wohnen, fühlen sich wohl. 1995 hingegen war es nur ein Drittel. Nach der Wende war der Wohlfühlfaktor auf seinem Tiefpunkt. Inzwischen ist die Wohnzufriedenheit relativ hoch.

Frage: Woran liegt diese Verbesserung?

Sigrun Kabisch: Erstrangig an den Investitionen, die in den 90er Jahren in das Gebiet geflossen sind. Die haben zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen geführt. Es gibt gute Umweltbedingungen, zum Beispiel viel Grün. Die Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr ist gut, die Mietpreise sind vertretbar. Es gibt viele Merkmale, die die Menschen in Grünau schätzen. Viele wohnen bereits seit über 20 Jahren dort und fühlen sich mit dem Gebiet verbunden.

Frage: Das sind die positiven Seiten, was stört die Bewohner?

Sigrun Kabisch: Natürlich ist diese positive Darstellung differenziert zu betrachten. Sie gilt nicht generell für dieses große Gebiet. Es gibt Teile, in denen läuft es gut, in anderen gibt es Probleme. Das zentrale Thema dabei ist die Veränderung der sozialen Struktur. Heute leben in Grünau ganz unterschiedliche soziale Gruppen. Einige haben Probleme, die Regeln und Normen einzuhalten. Da entstehen Spannungen und Konflikte, die entschärft werden müssen.

Frage: Ist zu erwarten, dass sich die Erkenntnisse von 2004 bei der Untersuchung dieses Jahr bestätigen?

Sigrun Kabisch: Meine Hypothese ist, dass sich die Wohnzufriedenheit in Grünau weiter stabilisiert hat. Und ich betone, dass wir auch die demographische Veränderung beachten müssen. Nicht nur Grünau wird älter und reifer, sondern mit dem Stadtteil auch seine Bewohner. Die Zahl der über 55-Jährigen nimmt weiter zu, die Zahl der unter 35-Jährigen ab.

Frage: Woran liegt das?

Sigrun Kabisch: Zum einen werden die Menschen, die dort seit vielen Jahren wohnen, immer älter. Und es ziehen nicht so viele junge Menschen dorthin. Ein Teil der Jungen zieht weg. Nicht unbedingt, weil sie sich nicht wohlfühlen, sondern weil sie das elterliche Nest verlassen und woanders eine Ausbildung oder Arbeit gefunden haben.

Frage:Grünau und andere Großwohnsiedlungen haben also eine Zukunft?

Sigrun Kabisch: Ja. Meine These ist, dass gerade in Zeiten des Klimawandels diese Stadt-teile große Potenziale bieten. Wegen der Eigentumsverhältnisse können dort Veränderungen großflächig in Angriff genommen werden. Viele Grünzüge und Baumgruppen sind mittlerweile vorhanden. Der Durchgangsverkehr ist auf bestimmte Straßen konzentriert. Alle Faktoren begünstigen ein gutes Mikroklima. Für die Großwohnsiedlungen, die diese Qualitäten besitzen, prophezeie ich eine gute Zukunft. Grünau verfügt darüber. Grünau hat eine Zukunft.

Interview: Jenifer Hochhaus


HINTERGRUND

Stadtsoziologische Studie

Die Studie zeigt aus Bewohnerperspektive die Facetten der Wohn- und Lebensbedingungen. Seit 1979 wurden acht Mal die Menschen in diesem Stadtteil befragt, so dass es möglich ist, die Veränderungen zu betrachten. Damit ist die Untersuchung deutschlandweit die längste stadtsoziologische Studie. Von besonderer Relevanz ist außerdem, dass der gesellschaftliche Umbruch in Ostdeutschland betrachtet werden kann. Gemeinsam vom Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung sowie dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung wird die neunte Erhebung gefördert, für die im Juni 900 Fragebögen an die Bewohner verteilt werden. Die vollständigen Ergebnisse gibt es dann in einem Jahr. jh


Quelle (Text + Foto): Leipziger Volkszeitung vom 12.05.2009