„Eine Lanze für Grünau“

Stadtsoziologin Sigrun Kabisch bestätigt im Interview, dass es sich in Leipzig gut leben lässt – Interview der Leipziger Volkszeitung vom 10.03.2010:

Sigrun Kabisch, Professorin am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung und Leiterin des Departments Stadt- und Umweltsoziologie, weiß, warum, wie und wo es sich in Leipzig gut leben lässt – und das auch, weil sie in dieser Stadt zu Hause und schon seit 1978 wissenschaftlich tätig ist.

Frage: Eine Ihrer Spezialstrecken ist die Stadtentwicklung aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Wie sieht die aus?
Sigrun Kabisch: Wir schrumpfen, die Bevölkerung nimmt ab. Und das in ganz Deutschland. Bis 2050 werden im Land statt 82 nur noch etwa 73 bis 69 Millionen Menschen leben – so die jüngste Prognose. Die Kinder, die vor 20 Jahren nicht geboren wurden, können eben heute auch keine Kinder kriegen. Darauf müssen sich Städte und Gemeinden einstellen. Wir erleben den Stadtumbau.

Leipzig macht da keine Ausnahme?
Nein, die Stadt verlor nach 1990 fast 100.000 Einwohner, die durch Eingemeindungen nur bedingt zurückgeholt wurden.

Welche Gründe gab es für den Schwund?
Viele Menschen verließen Leipzig, weil sie keine Arbeit mehr hatten oder keinen Ausbildungsplatz fanden. Andere wollten sich den Traum vom Eigenheim erfüllen und zogen ins Umland. Hinzu kam die stark gesunkene Geburtenrate, die nach 1990 sogar noch niedriger war als nach dem Zweiten Weltkrieg. Die genannten Fakten haben Langzeitwirkung, sind quasi irreversibel.

Leipzig hat mittlerweile wieder die 500.000-Einwohner-Grenze überschritten – wie das?
Das ist gut so, die neue Grenzziehung durch die Gemeindegebietsreform ist aber nur ein Grund dafür. Jetzt gibt es wieder Zuzug. Für junge, gut ausgebildete Leute aus der Region und auch aus dem Westen ist die Stadt sehr attraktiv, dies belegen Untersuchungsergebnisse. Wichtig ist, die Einwohnerzahl langfristig zu stabilisieren.

Inwiefern?
Leipzig bietet arbeitsplatzmäßig eine ganze Menge, auch wenn mit 15 Prozent die Arbeitslosigkeit hoch ist. Man findet gute Wohnbedingungen zu günstigen Konditionen. Das kulturelle Angebot ist vielfältig.

Leipzig wird damit jünger?
Leipzig ist jung, denn auch ein 50-Jähriger kann ja sehr agil sein.

Wie preiswert ist es für einen Münchner, in Leipzig zu wohnen?
Er bezahlt als Mieter für seine Bleibe im Vergleich nur etwa ein Drittel.

Was macht die Stadt außer günstigen Mieten noch attraktiv?
Viele Leute sind erstaunt, was ihnen hier alles geboten wird: die gewachsene Stadt mit intakten, architektonisch wertvollen Ensembles, vielfältige Bildungseinrichtungen, die Kulturszene, die großzügigen Grünanlagen, die Kneipen, das ausgebaute Straßenbahnnetz und vieles mehr.

Auch das Umland!?
In Großbritannien gibt es den Lake District, den haben wir nun rund um Leipzig mit Neuseenland. Das ist mit dem Wissen, wie diese Landschaften vor 20 Jahren aussahen, unglaublich.

Früher gab es nur den Kulkwitzer See. Ist er etwa durch Neuseenland zur größeren Badewanne degradiert?
Ganz im Gegenteil, der See trägt sehr zur Zufriedenheit der Grünauer mit ihren Wohnbedingungen bei.

Es heißt aber immer: Grünau, ein Moloch. Dem können Sie also nicht zustimmen?
So eine Meinung ärgert mich, weil sie nicht der Wahrheit entspricht und nur von denjenigen geäußert wird, die keine Ahnung haben. Ich forsche zum Thema Grünau schon seit 30 Jahren. Gerade konnten wir die Ergebnisse unserer neuen Studie vorstellen. Wir befragten im letzten Sommer die Bürgerinnen und Bürger. Die Ergebnisse aus 700 Fragebögen zeigen, dass die Grünauer gern in ihrem Stadtteil leben.

Die Grünauer fühlen sich missverstanden?
Ja, manch einer spricht von Stigmatisierung. Dieser Stadtteil von der Größe einer Mittelstadt mit 45.000 Einwohnern ist lebenswert, hier sind alle Bevölkerungsschichten zu Hause. Auch gibt es hier nicht mehr und nicht weniger als andernorts jene, die mit der Bierflasche am Supermarkt stehen.

Es gibt auch Zuzug nach Grünau?
Leute, die in Leipzig erstmals eine Bleibe suchen, ziehen unter anderem auch nach Grünau, und es kehren ehemalige Grünauer zurück. Dass man in Grünau gut und preisgünstig leben kann, beweist auch der Fakt, dass es gegenwärtig kaum gelingt, Grünauer für frei stehende sanierte Altbauwohnungen in Leipzig zu interessieren. Man muss dabei wissen, dass der Wohnungsleerstand im Altbau höher ist als der im Plattenbau.

Interview: Thomas Mayer

Quelle (Text + Foto): Leipziger Volkszeitung vom 10.03.2010

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