„Soziale Stadt vor dem Aus?“

Barack Obama und die Erfahrung deutscher Stadt-Organisierer – Auszüge aus einem Artikel der Leipziger Internetzeitung vom 07.11.2010 zum WISO-Diskurs der Friedrich-Ebert-Stiftung „Das Programm Soziale Stadt. Kluge Städtbauförderung für die Zukunft der Städte“:


Wenn sich die derzeitigen Sparmeister in Berlin durch etwas auszeichnen, dann durch die Ziellosigkeit ihrer Sparpakete. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) will den Etat für Städtebauförderung von 610 Millionen Euro auf 305 Millionen halbieren. Bauernopfer: das Projekt „Soziale Stadt“.
Einer von vielen Sparposten, mit denen die aktuelle Bundesregierung – wider besseres Wissen – die sozialen Strukturen der Republik aushöhlt. Selbst in der Regierungskoalition weiß man, welche Erfolge das 1999 aus der Taufe gehobene Programm bei der Stabilisierung sozial benachteiligter Stadtteile gebracht hat. Rund 600 Stadtteile und Quartiere haben bisher an diesem Programm teilgenommen.

„Ziele des Programms sind, die physischen Wohn- und Lebensbedingungen sowie die wirtschaftliche Basis in den Stadtteilen zu stabilisieren und zu verbessern, die Lebenschancen durch Vermittlung von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissen zu erhöhen, Gebietsimage, Stadtteilöffentlichkeit und die Identifikation mit den Quartieren zu stärken.“ So nachzulesen auf der Website der Stadt Leipzig, die mit zwei Schwerpunktgebieten an diesem Programm teilnimmt: dem Leipziger Osten seit 1999 und Grünau seit 2005. Es geht um mehr als Stadtumbau. Es geht vor allem um Integration.

Aber genau diesen Teil will Peter Ramsauer gern los werden. Wenn es nach ihm geht, sollen aus Städtebaufördermitteln nur noch Baumaßnahmen bezahlt werden. Doch die machen wenig Sinn, wenn in Problemquartieren nicht auch inhaltlich gearbeitet wird.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat zum heiß diskutierten Thema jetzt eines ihrer Diskurs-Hefte vorgelegt, erarbeitet vom FES-Arbeitskreis Stadtentwicklung, Bau und Wohnen. Da weiß man sehr wohl, was man im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (so heißt es nämlich ganz offiziell) mit der Amtsübernahme durch Peter Ramsauer ganz schnell vergessen wurde: dass Stadtentwicklung ohne soziale Integration nicht funktioniert.

Sie funktioniert auch rechnerisch nicht, wenn man denn einmal den Aspekt benennt, der aktuell die deutsche Politik dominiert: die brachiale Ökonomisierung aller Lebensbereiche, gekoppelt mit einer massiven Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Man behandelt den Staat und das Land wie einen Privatkonzern – bis hin zur computerlesbaren Passierkarte für alle Bürger, die sich neuerdings Personalausweis nennt.
Die FES-Broschüre hat einen Vorwort-Autoren bekommen, den so wohl derzeit keine andere Publikation in Deutschland aufweisen kann: Barack Obama schreibt über „Probleme und Aussichten in den Innenstadtgebieten“ und stellt die Frage: „Warum organisieren?“

Ja, es ist genau der Barack Obama, der bis vor wenigen Tagen noch als der „mächtigste Mann der Welt“ galt, bevor ihm ein von Tea-Party-Hysterie dominierter Wahlkampf wieder fast alle Handlungsspielräume beschnitt. Die USA sind – unübersehbar – ein Land, in dem Stimmungen und Kampagnen die Politik dominieren und augenscheinlich die Vermittler fehlen, die Umbauprozesse erklären und begreifbar machen. Denn man baut weder Städte noch Länder in ein, zwei Jahren um. Obama weiß das aus eigener Erfahrung. Als er den Text 1988 veröffentlichte, zog er Bilanz über seine dreijährige Arbeit als „Community Organizer“ in Chicago. Und Chicago, das ist nicht nur eine Stadt mit einer großen industriellen Vergangenheit, das ist auch eine Stadt mit gewaltigen Strukturproblemen, seit einige der hier ansässigen Industrien in der Krise stecken.

Was den Osten Deutschlands seit 1990 umgekrempelt hat, war an den Großen Seen ein eher schleichender Prozess. So schleichend, dass die Probleme sich manifestierten, bevor die Politik auch nur aufschreckte. Als Obama als „Community Organizer“ arbeitete, waren schon komplette Stadtquartiere vom Wohlstand der Millionenmetropole abgeklemmt. […]

Und der „Community Organizer“ Barack Obama beschäftigte sich genau damit: Wie kann man die Kraft, das Engagement und das Wissen dieser Bevölkerungsteile nutzen, um die Abwärtsspirale, in denen diese Stadtteile steckten, aufzuhalten? Denn lethargisch sind diese Beiseitegeschobenen ja nicht, weil das irgendwie mystisch in ihrem Blut steckt. Der 27-jährige Obama weiß genau, dass das etwas mit Motivation und Demotivation zu tun hat. Welche Geschichten werden sich in den heruntergekommenen Stadtteilen erzählt? Immer nur die von Frust, Gewalt, Drogen und Betteln um jeden Penny? Oder sollte man doch nicht alles dafür tun, damit hier andere Geschichten die Oberhand bekommen?

Das hat etwas mit Chancen zu tun, mit Organisieren – und mit Geld. Auch das sagt Obama deutlich: Die Fähigkeiten der Bewohner dieser Stadtquartiere sind ein Schatz, mit dem man wuchern kann. Aber er kann nicht gehoben werden, wenn die Gelder immer nur in die reichen Quartiere fließen und für die armen Quartiere immer nur die Almosen übrig bleiben.
Die Autoren der Broschüre analysieren Vor- und Nachteile des Programms „Soziale Stadt“ recht gründlich. Was sie feststellen, ist, dass es oft Defizite bei der Umsetzung des integrierten Programmansatzes gibt – nämlich bei der tatsächlichen Einbindung der Akteure vor Ort. Und es gibt Defizite, die können mit den Mitteln aus dem Programm „Soziale Stadt“ allein nicht aufgefangen werden. Jene nämlich, die durch falsche Steuerung in allen deutschen Kommunen in den letzten Jahrzehnten entstanden.

So benennt Ulrich Pfeiffer (Aufsichtsratsvorsitzender der empirica AG): „Städte sind über mehrere Jahrzehnte eher familienunfreundlicher geworden, ohne dass systematische Gegenstrategien entwickelt wurden. … Städte sind spätestens seit Mitte der 1970-er Jahre Einwanderungsstädte, ohne dass dies über mehr als zwei Jahrzehnte politisch akzeptiert oder artikuliert wurde. … Städte wurden ökologisch immer weniger nachhaltig. … Der Städtebau wurde über fast zwei Jahrzehnte (1960 – 1980) im Neubau nicht selten von entfremdeten Bauformen und einem abstrakten Prinzipienfunktionalismus dominiert.“ Das Verkehrsmanagement verschlingt „Milliarden Stunden an Lebenszeit“.

Er ist nicht der Einzige, der deutlich benennt, dass es die wuchernde Autostadt des 20. Jahrhunderts ist, die nicht nur die materiellen Reserven der Stadt aushöhlt. Sie sorgt auch für den ersten Schritt der Ghettoisierung. Man schaut zwar immer auf die Problemviertel, in denen – ganz unverhofft – Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt und Drogenmissbrauch zunehmen. Doch diese Viertel entstehen nicht, weil Arme und Ausgegrenzte dort hinziehen, sondern weil die Reichen und Mobilen wegziehen – nämlich in ihre eigenen Ghettos. Sie kapseln sich als erste ab.

Sie flüchten regelrecht vor den Aufgaben und Problemen. Und überlassen dann den Stadtverwaltungen die Aufgabe, Lösungen zu finden für die problematischen Stadtquartiere. Aber möglichst so, dass sie selbst nicht dazu beitragen müssen. Sie schreiben lieber riesengroß „Steuern runter!“ auf ihre Plakate. Und schimpfen dann auf die faulen Arbeitslosen und Ausländer. Aber was tun, fragen sich nicht nur deutsche Bürgermeister. […]

Auch das Programm „Soziale Stadt“ bringt unterschiedliche Ergebnisse. Frank Bielka, Vorstandsmitglied der dewego AG, schreibt in seinem Beitrag über das Viertel in Berlin, in dem seine Wohnungsgesellschaft aktiv ist – das Brunnenviertel. Und er benennt – nicht als einziger Autor – die konkrete Rolle, die kommunale Unternehmen und Einrichtungen in solchen Vierteln spielen müssen – als Investor, Organisator, Netzknoten. Das betrifft nicht nur die Wohnungsgesellschaft, die mit aktiver Mieterpolitik dafür sorgen kann, dass sich ein Viertel nicht entmischt, sondern gezielt aufgewertet wird.

Aber selbst eine Wohnungsgesellschaft steht auf verlorenem Posten, wenn andere Partner nicht mitspielen – die Polizei etwa, die im Brunnenviertel auch in den Abendstunden einen Sicherheitsdienst eingerichtet hat. Jede Erhebung – auch in Leipzig – belegt, dass Ordnung und Sicherheit die wichtigsten Aspekte sind, die darüber entscheiden, ob man sich in seinem Umfeld wohl fühlt.

„Eine schöne Wohnung, bezahlbare Mieten, ein freundlicher Vermieter, das alles verliert, wenn das Umfeld nicht stimmt“, schreibt Bielka. Und benennt dann, was eine Umfrage von 2008 ergab – nämlich wie Eltern von schulpflichtigen Kindern den Stadtteil wählen, in den sie ziehen. Und für 90 Prozent ist die Qualität von Schulen und Kindertageseinrichtungen das A und O. Und dazu gehören nicht nur die bauliche Ausstattung und das inhaltliche Angebot. Nichts ist schlimmer, so auch Bielka, als wenn Schulen sich einmauern und sich gegen den Stadtteil abschotten, in dem sie stehen. „Denn wo Schulen versagen, können ganze Viertel abrutschen“, schreibt Bielka.
Man hat im Brunnenviertel mittlerweile andere Erfahrungen gemacht. Denn man hat auch eine Lehrerschaft umgekrempelt, die vorher die Arbeit im Brunnenviertel als Strafversetzung gesehen hat und entsprechend lethargisch war. So etwas hat massive Wirkungen auf die Schüler. Sie erleben dann tagtäglich, wenn ihnen vermittelt wird, „dass alles keinen Sinn hat“.

Und Bielka betont mehrfach den Punkt, der nur auf den ersten Blick eine Schwäche des Programms „Soziale Stadt“ ist. Es kann Strukturen nicht verändern. Und es ist dort wirkungslos, wo die gesellschaftlichen Einrichtungen sich dem integrierten Auferweckungsprozess verweigern.

Dr. Franz-Georg Rips, Präsident des Deutschen Mieterbundes und Bürgermeister von Erfstadt, geht in seinem Beitrag noch einmal gründlich auf die „Ghettoisierung“ in deutschen Städten ein, die man meist Segregation nennt. „Die freiwillige Segregation ist die Kehrseite der erzwungenen“, schreibt er. „Es wird klaglos hingenommen, dass die am meisten segregierten, also sozial homogensten Gebiete, die Villengebiete der Reichen in den Städten sind. Als ungesund und veränderungswürdig wird immer nur gesehen, wenn zu viele ärmere, bildungsfernere, integrationsbedürftige Menschen auf einem Fleck wohnen.“

Und damit sind die Kommunen – selbst „meist hoffnungslos überschuldet“ – natürlich überfordert. Erst recht, wenn Politiker, die ihre Klientel in den einkommensstärkeren Schichten suchen, die Sozialprogramme für benachteiligte Quartiere kappen. Wie derzeit gerade geplant. Und auch Rips betont, dass es ohne einen integrierten Ansatz nicht funktionieren kann. „Bildungseinrichtungen und Schulen sind die entscheidenden Integrationsinstanzen einer Sozialen Stadt. Die Bau- und Bildungspolitiker haben noch nicht in ausreichendem Maße zueinander gefunden. Sie müssen wissen: Manche schulpolitische, ideologisch geführte Diskussion dient in keiner Weise dem sozialen Zusammenhalt in den Städten.“

Noch gründlicher geht Achim Großmann auf die Rolle der „Stadtteilschule“ als „den zentralen Ort der sozialen und ethischen Integration“ ein. Wobei die ethnische Segregation in Deutschland nicht die dominierende ist. Darauf weist Prof. Klaus Peter Strohmeier am Beispiel der Ruhrgebietes hin. Deutsche Städe leiden viel stärker unter sozialer und demografischer Segregation. Was – Strohmeier streift es nur knapp – mit der forcierten Trennung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen zu tun hat. „Städte sind immer Integrationsmaschinen gewesen“, schreibt Strohmeier, „der Treibstoff aber ist Arbeit.“

Darauf kann diese Broschüre freilich nicht mehr eingehen, welche Rolle die zunehmenden Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsort bei der sozialen Entmischung der Städte spielen.

Ralf Julke

Quelle: Leipziger Internetzeitung vom 07.11.2010

Den kompletten Artikel finden Sie unter www.l-iz.de.

Die Publikation „Das Programm Soziale Stadt: kluge Städtebauförderung für die Zukunft der Städte“ ist als PDF abrufbar unter: www.fes.de/wiso/