Neue Ansätze für Bürgerbeteiligung in Leipzig

Soziologie-Professor untersucht, wie Leipzigs Stadtverwaltung die Wut ihrer Wut-Bürger in produktive Bahnen lenken kann – Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 29./30.01.2011 (Originaltitel: „Wie bei Stuttgart 21“):

Aus der Reihe: S T A D T – I N T E R V I E W
Seit in Stuttgart wütende Bürger mobil machen, um den 3,3 Milliarden Euro teuren Umbau ihres Haupt-bahnhofes in einen unterirdischen Durchgangs-bahnhof zu stoppen, ist der Begriff Wut-Bürger in aller Munde. Weil die Leipziger Stadtverwaltung ähnliche Entwicklungen verhindern will, ist der renommierte Soziologie-Professor Hartmut Klages ehrenamtlich für die Stadt aktiv geworden. Er hilft der Verwaltung, ihre Bürgerbeteiligung zu verbessern.

Frage: Herr Professor, Sie untersuchen, warum sich immer mehr Bürger resigniert von der Politik abwenden. Warum immer mehr das Gefühl haben, die Politiker machen doch letztendlich was sie wollen. Was haben Sie herausgefunden?
Hartmut Klages: Wir haben in unserem Land eine Zuschauerdemokratie, hinter der sich ein massiver Politikverdruss verbirgt, der sich mit Ohnmachtsgefühlen verbindet. Soziologisch gesehen handelt es sich um ein enormes Protestpotenzial, das nach zwei Seiten entwickelt werden kann: Es kann in politische Beteiligung umgesetzt werden oder – wenn dazu keine Möglichkeiten geschaffen werden – in chaotische Protestaktivitäten wie bei Stuttgart 21. Also in ein spontanes, eruptives Aufbegehren jenseits aller Rationalität. Die Leute hatten die Nase voll und sagten: Jetzt ist Schluss, jetzt reicht es uns. Es ging nicht um eine Variante A oder B – es ging um einen totalen Protest, weil Entscheidungen, die ihre Lebensumwelt betreffen, über ihre Köpfe getroffen wurden.

Sie meinen, Kommunen können solchen Entwicklungen vorbeugen?
Kommunen sind in der Lage und aufgefordert, den Bürgern solche Beteiligungschancen anzubieten, wie sie sie sich wünschen und vermissen. Zudem haben Untersuchungen in Leipzig ein ums andere Mal gezeigt, dass eine Mehrheit der Bürger sich beteiligen möchte, jedoch bisher keine effektiven Möglichkeiten dazu hat.

Es gibt doch Beteiligungsmöglichkeiten.
Wenn man die Beteiligungsmöglichkeiten genau betrachtet, sind sie sehr gering. Es gibt die gesetzlichen Möglichkeiten wie die so genannte frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung bei städtischen Entwicklungsprojekten. In Stuttgart hat das auch alles stattgefunden. Faktisch werden zu Beginn eines Projektes Bürgerversammlungen durchgeführt, in denen die Bürger auftreten und ihre Meinung äußern können – und dann laufen die eigentlichen Planungsprozesse an, an denen der Bürger nicht mehr beteiligt ist. So ist die Realität.

Wie sollte es sein?
Die Bürger sollten in jeder Projektplanungsphase beteiligt sein – zum Beispiel, indem sie werkstattartig einbezogen werden.

Es heißt, dies geschehe, indem die politischen Gremien – zum Beispiel der Stadtrat – genau in solche Prozesse einbezogen werden. Auch viele Leipziger Stadträte beanspruchen für sich, dabei die Interessen der Bürger zu vertreten und einen Blick dafür zu haben, was diese Bürger wollen.
Welcher Politiker weiß schon sehr genau, wie seine Wähler ticken? Politiker werden gewählt, weil die Menschen sie sympathisch finden, wegen bestimmter Eigenschaften oder Grundauffassungen. Aber sie werden nicht gewählt, um innerhalb der Wahlperiode ganz bestimmte Positionen bei Sachthemen zu vertreten. Bestimmte Themen stehen bei der Wahl auch noch gar nicht zur Debatte, sie tauchen erst später auf. Die Politiker haben nicht die Möglichkeit, die Meinung der Bevölkerung in den Fingerspitzen zu haben. Sie haben auch nicht die Möglichkeit, hinauszugehen und die Leute persönlich danach zu fragen.

Das wäre in Leipzig mit seinen fast 520000 Einwohnern in der Tat völlig illusorisch.
Das ist Politikern sogar bei einer Stadt von 50000 Einwohnern unmöglich. Stadträte sind in der Regel Feierabend-Politiker, die immer unter Zeitdruck stehen. Zudem hat jeder Mensch ohnehin nur einen begrenzten Umgangskreis – das gilt natürlich auch für Politiker. Deshalb müssen Formen entwickelt und etabliert werden, die den Bürgern die Möglichkeit bieten, Gehör zu finden. Das darf nicht davon abhängig sein, ob einer zufällig einen Stadtrat kennt oder einen heißen Draht ins Rathaus hat. Gewählte Politiker kommen nicht umhin, die Menschen zu befragten – und zwar so, dass jeder Bürger die reale Chance hat, auch gehört zu werden.

Sie sind Mitglied der Trialogischen Arbeitsgruppe, die in Leipzig eine neue Rahmenordnung für die Bürgerbeteiligung erarbeitet hat. Trialogisch heißt, unter Beteiligung von Bürgern, Ratsmitgliedern und Verwaltungsangehörigen. Das Papier soll verbindliche Grundlagen für eine gesicherte Bürgerbeteiligung schaffen – über die bisherigen gesetzlichen Grundlagen hinaus. Wie ist die Reaktion der Leipziger Stadtverwaltung?
Die neue Rahmenordnung ist von der Verwaltung bereits akzeptiert und liegt zurzeit zum zweiten Mal den Fraktionen des Stadtrates vor. Sie soll noch in diesem Jahr beschlossen werden.

Was sieht dieses Papier vor, um die Wut der Wut-Bürger für das Gemeinwesen produktiv zu machen?
Es sieht grundsätzliche Neuerungen vor. Ein ganz wichtiger Punkt ist die Beteiligung der Bürger am gesamten Ablauf von Entscheidungsprozessen in Rat und Verwaltung. Dazu gehört natürlich vor allem eine bessere Information der Bürger über die Planung und den Bearbeitungsstand von Projekten. Aber auch das Angebot von Möglichkeiten zur direkten Mitarbeit der Bürger. Natürlich können nicht immer alle direkt mitarbeiten, aber deshalb müssen die Ergebnisse an wichtigen Bearbeitungsständen zurückgekoppelt werden an die gesamte Bürgeröffentlichkeit, und allen muss eine Möglichkeit zur Meinungsabgabe eingeräumt werden.

Wie soll das praktisch funktionieren?
In mehreren Schritten: Bürger arbeiten in Workshops oder Foren mit und an wichtigen Punkten des Beteiligungsprozesses wird den Bürgern eine Möglichkeit der Meinungsäußerung eingeräumt – mit verschiedenartigen Methoden.

Was für Methoden?
Zum Beispiel Bürgerbefragungen – ganz konkret auf den jeweiligen Entscheidungsprozess bezogen und wiederkehrend. In unserer Vorlage für den Stadtrat heißt das Bürgerpanel – der Begriff Panel stammt aus Großbritannien, wo die Methode schon seit Jahren erfolgreich angewandt wird. Panel bedeutet in der Sozialwissenschaft die wiederholte Befragung einer repräsentativen Stichprobe. Das ist wichtig, weil bei längeren Projekten – insbesondere Großprojekten – die Bürger auch wiederholt befragt werden müssen. Wenn eine Grundsatzentscheidung getroffen ist, geht es nicht mehr um die Frage des Ob, sondern um das Wie. In der modernen Planung wird ja immer in Alternativen gedacht, die teilweise auch sehr unterschiedlich teuer sind. Zum Beispiel beim Einheits- und Freiheitsdenkmal: Wenn der Stadtrat entschieden hat, dass es kommt, stellt sich unter anderem die Frage: Wohin kommt es? Aber das Bürgerpanel ist nur ein Instrument zur Beteiligung von Bürgern.

Was schlagen Sie noch vor?
Der Instrumentenkoffer reicht von aufwändigen Verfahren wie Planungszelle – das ist ein Gruppenverfahren, bei dem Bürger zusammen mit Experten ein Bürgergutachten zu bestimmten Fragen erstellen – bis zu runden Tischen, Zukunftswerkstätten und Bürgerforen. Alles in allem, mit Varianten, so um die 20 Methoden beziehungsweise Instrumente.

Warum so viele?
Zum einen, weil nicht jede Methode in jeder Phase eines Projektes optimal einsetzbar ist, zum anderen werden unterschiedliche Beteiligungsangebote benötigt, um möglichst vielen Menschen die Chance zur Beteiligung zu eröffnen. Denn die Bürger unterscheiden sich teilweise sehr stark, wenn es darum geht, wie viel Zeit man persönlich investiert oder wie intensiv man die öffentliche Diskussion verfolgt.

Die politischen Entscheidungen werden aber nach wie vor vom Stadtrat getroffen?
Unsere Vorlage sieht keine expliziten Veränderungen der repräsentativen Mechanismen und Abläufe vor. Wir gingen aber davon aus, dass maßgebliche Arbeiten im Vorfeld der politischen Entscheidungen geleistet werden. Die Intention der Rahmenordnung ist es, die Bürger bei der Erarbeitung und Planung von Projekten umfassend einzubinden und zu beteiligen. Bei der politischen Entscheidung für oder gegen Vorschläge am Ende des Planungsprozesses geht es dann letztlich nur noch um die Endstufe eines Dialogs mit den Bürgern. Wir sind überzeugt, dass die Akzeptanz der politischen Entscheidungen bei den Bürgern auf diesem Wege ausschlaggebend erhöht werden kann. Im Übrigen bleibt den Bürgern die in der Gemeindeordnung vorgesehene „Notbremse“ der Beantragung eines Bürgerentscheids uneingeschränkt erhalten.

Wie kann verhindert werden, dass aus diesen umfangreicheren Beteiligungsverfahren nicht wieder nur neue Alibiveranstaltungen werden?
Zu diesem Zweck soll eine Anlaufstelle für die Bürger geschaffen werden. Dort muss kontrolliert werden, ob die Arbeit der Verwaltung mit den Ideen und Vorstellungen der Bürger übereinstimmt. Und es muss sichergestellt werden, dass die Bürger die neuesten Informationen erhalten können.

Sie glauben, dass sich Leipzigs Stadtverwaltung so aufwändige zusätzliche Verfahren antut?
So furchtbar aufwändig sind die zusätzlichen Verfahren gar nicht. Zum Beispiel werden die Bürger in der Regel unentgeltlich tätig, wenn ihre Interessen betroffen sind. Außerdem liefern sie mit ihren Äußerungen wichtige Informationen darüber, in welche Richtung gearbeitet werden muss. Zeitraubende Konflikte mit Wut-Bürgern können so vermieden werden. Natürlich steht die Verwaltung auch da und sagt: Wie sollen wir das machen? Die Verwaltung hat deshalb inzwischen mit Fortbildungsmaßnahmen begonnen, um die städtischen Bediensteten auf die neuen Aufgaben vorzubereiten.

Können die Verfahren nur bei neu zu startenden Projekten oder bei schon gestarteten angewandt werden?
Prinzipiell ist jedes Projekt geeignet für Bürgerbeteiligung. Wenn der Stadtrat positiv entschieden hat, soll zunächst eine Pilotphase mit einer begrenzten Zahl von Projekten gestartet werden. Dazu sollen vom Stadtrat drei Pilotprojekte beschlossen werden, die noch festgelegt werden müssen.

Wann könnte es losgehen?
Den politischen Willen vorausgesetzt – nach der nächsten Stadtratssitzung. Um es noch einmal klar zu machen: Unsere Vorschläge sind kein Ersatz für die bisherigen Beteiligungsmöglichkeiten. Die bleiben bestehen. Unsere Verfahren sollen zusätzlich angewandt werden.

Interview: Andreas Tappert

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 29./30.01.2011