„Quadratur des Kreises“

Grünauer Bürgerinitiative mobilisiert alle Kräfte für den Erhalt der S-Bahn-Linie 1 – Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 11.02.2011

Der Countdown für die Einstellung der S-Bahn-Linie 1 ist angelaufen: Am 16. Februar um 18.30 Uhr will der Zweckverband Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL) im Rathaus entscheiden, ob die Verbindung bis zum 13.Dezember 2013 aus dem Fahrplan gestrichen wird. Die Wogen der Erregung schlagen immer höher, denn die S 1 ist gut ausgelastet.
„Trotzdem sehe ich keine Alternative zur Einstellung“, bekräftigte gestern ZVNL-Geschäftsführer Andreas Glowienka. Wegen Mittelkürzungen habe sein Verband schon Verkehrsgutachten gestrichen und das Marketing eingestellt; auch Investitionen zum Beispiel für den Haltestellenbau, die der ZVNL teilweise mitgetragen hat, wurden auf Eis gelegt. „Wir gehen jeden einzelnen Streckenast durch, um nach Kürzungspotenzialen zu suchen“, sagte er. „Aber eine Mittelkürzung von sechs Prozent in diesem Jahr und 8,5 Prozent in den Jahren 2012 bis 2014 ist nicht ohne Einschnitte zu kompensieren.“
Auch der Stadtrat hat sich am Mittwoch erneut gegen „jegliche Kürzungsabsichten“ der S 1 positioniert – aber gleichzeitig Kompromissbereitschaft signalisiert. Wenn eine vorübergehende Stilllegung unausweichlich sei, müssten die Auswirkungen abgefedert werden, heißt es in dem Beschluss. Gefordert wird die Führung der Buslinie 80 von Wahren über Möckern nach Grünau, ein dichterer Takt des Stadtteilbusses Grünolino sowie der Einsatz einer zusätzlichen Straßenbahn auf der Linie 15 in der Frühspitze. Geprüft werden müsse auch, inwieweit die Instandsetzung der S-Bahn-Brücke Miltitzer Allee mit Mitteln des ZVNL finanziert werden könne.
Der Grünauer Bürgerinitiative (BI), die sich den Erhalt der S 1 auf die Fahne geschrieben hat, ist dies sauer aufgestoßen. „Wir haben bis jetzt 8500 Unterschriften für den Erhalt gesammelt und werden wohl auf 10000 kommen“, wirft dort BI-Sprecher Klaus Wagner in die Waagschale. „Der geforderte Ersatz ist kein wirklicher Ersatz.“ Die Grünauer seien der Meinung, dass jetzt auf ihrem Rücken die Millionen eingespart würden, die der City-Tunnel mehr kostet. „Das ist für uns nicht akzeptabel. Die S-Bahn-Linie ist gut ausgelastet und das Rückgrat unseres Stadtteils.“ Die BI werde weitere Aktionen starten, um dem Nachdruck zu verleihen.
Angesichts dieses Widerstandes gilt es mittlerweile selbst im ZVNL als ungewiss, ob der Einstellungsbeschluss in der nächsten Woche zustande kommt. An der Notwendigkeit, die nicht vorhandenen Mittel einzusparen, ändert dies freilich nichts. „Wir haben einen ganzen Strauß von alternativen Entscheidungen vorbereitet, die dann getroffen werden müssten“, sagte Glowienka. Zehn Maßnahmen seien vorgesehen. Welche das im Detail sind, will der Geschäftsführer aber nicht sagen. Durchgesickert ist, dass die Mitteldeutsche Regiobahn nach Torgau eingestellt werden könnte und dass im Südraum alle Züge, die über Altenburg ins Vogtland fahren, von Einsparungen betroffen sein könnten.
Das Echo auf die drohende Einstellung der S 1 wird trotzdem immer größer. Dabei ist aber auch Verständnis für die schwierige Lage der ZVNL zu hören. So warnen Politiker der Linkspartei, die mit dem ZVNL nicht selten heftige Fehden ausfechten, den „falschen Adressaten“ verantwortlich zu machen. „Durch die kurzfristige Rasenmäher-Kürzung im Doppelhaushalt 2011/12 ist den Besonderheiten in den sächsischen Regionen durch die Staatsregierung und den zuständigen Minister Sven Morlok nicht Rechnung getragen“, erklärte Landtagsabgeordneter Enrico Stange. Die Nahverkehrs-Grundversorgung stabil zu halten, komme deshalb „beinahe der Quadratur des Kreises“ gleich.

S T A N D P U N K T: Fatale Signale

Kein Leipziger Stadtteil hat so viele Federn lassen müssen wie Grünau. Die Einwohnerzahl wurde halbiert, die Straßenbahn eingekürzt, Filialen der Sparkasse und Bürgerämter geschlossen. Deshalb ist es ein Politikum, wenn jetzt noch die gut ausgelastete S-Bahn-Linie 1 eingestellt und dem Stadtteil das Rückgrat seiner Verkehrsinfrastruktur gebrochen werden sollte.
Auch die umweltpolitischen Ziele der Stadt würden konterkariert: Grünauer, die nicht mit Autos, sondern mit dem öffentlichen Nahverkehr fahren, müssen sich wieder umgewöhnen.
Obwohl beides fatale Signale wären, befinden sich die Grünauer noch in einer besseren Position als andere Fahrgäste: Ihre S 1 gehört zum neuen mitteldeutschen S-Bahn-Netz, dessen 1,6 Milliarden Euro schwerer Betreibervertrag zwölf Jahre läuft in dieser Woche unterzeichnet wurde. Die S 1 wird es deshalb wieder geben, wenn der City-Tunnel in Betrieb geht. Das gilt nicht für alle Angebote, die als Alternative auf der Streichliste stehen.

Andreas Tappert

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 11.02.2011

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