„Leipzig United: Weltauswahl aus Grünau“

Philipp coacht die vielleicht bunteste Mannschaft Leipzigs. Jungen aus acht Nationen tragen bei United F.C. das gleiche Trikot. Am Donnerstag müssen zwei der Spieler des Teams Deutschland verlassen. Ihr Asylantrag ist abgelehnt worden. Das Spiel am Tag darauf ist ein besonderes.

Es ist eine unschuldige Frage, wie sie vielleicht nur ein Kind stellen kann. Mo, der junge Syrer, will wissen, wann seine beiden Mitspieler Daco und Stefan wieder nach Deutschland zurückkehren. Für einen Moment klingt es so, als ob beide nur kurz verreist wären. Tatsächlich haben sie am Donnerstag gemeinsam mit ihrer Familie Leipzig verlassen müssen, sonst wären sie abgeschoben worden. Denn ihr Asylantrag ist zuvor abgelehnt worden.

Auf dem Fußballplatz gibt es wie im echten Leben gute und schlechte Pässe. Als Syrer hätten die Roma wohl bleiben dürfen, nicht aber als Serben. Mo hofft dennoch, dass beide bald zurückkehren. In wenigen Monaten, heißt es, wollen sie wieder da sein. Seine beiden Betreuer schauen skeptisch. „Die sind da ganz restriktiv“, sagt Peter. Er und Philipp glauben nicht, dass sie die Jungen so schnell wiedersehen. So leid ihnen das selbst tut.

Peter und Philipp coachen Leipzig United, eine Fußballmannschaft, die benachteiligten Jugendlichen aus Grünau helfen möchte. Es ist eine der buntesten Truppen der Stadt. Afghanistan, Algerien, Deutschland, Mazedonien, Russland, Serbien, Syrien und Tunesien – eine Hand reicht nicht aus, um alle Nationen aufzuzählen, die hier im selben Trikot spielen. Viele sind Flüchtlinge, fast alle kommen aus Grünau. Weil die Kinder aus dem Asylbewerberheim in der Liliensteinstraße lange an keinen Turnieren teilnehmen können, gründen Peter und Philipp vom Verein Netzwerk blau-gelb vor anderthalb Jahren die multikulturelle Mannschaft.

United ist eine Liga für sich, unfreiwillig. Denn die Truppe spielt offiziell in keiner Meisterschaft mit. Dank des Netzwerks von Peter und Philipp treten sie dennoch regelmäßig gegen andere an. „Offiziell sind das alles Trainingsspiele“, sagt Philipp. Am Freitag geht es zu den Kickers nach Markkleeberg. Es ist das erste Spiel ohne die Stützen Daco und Stefan. Wenn auch weit weg, bleiben beide doch ein Thema in der Truppe. „Daco ist jetzt in die Serbien“, erzählen sich die Jungs. Und dass er und sein Bruder sicher wieder kommen werden. Fußball ist für die Jungen etwas Greifbares, Abschiebung etwas Abstraktes.

Dabei droht einigen von ihnen das selbe Schicksal wie Daco und Stefan. Rund ein Drittel der Spieler von Leipzig United kommt laut Philipp vom Balkan. Ihre Aussichten, langfristig in Leipzig bleiben zu dürfen, sind nicht gut. Die Rückennummern von Daco und Stefan werden am Freitag in Markkleeberg nicht vergeben. Auch beim Gegner gibt es keine Nummer 5 und 11. Philipp hat im Vorfeld viel telefoniert. Wenn es schon aussichtslos ist, die Abschiebung abzuwenden, sollen wenigstens die beiden Jungen via Internet wissen, dass sie weiter Teil des Teams sind.

Die Mannschaft versteht sich längst nicht nur auf dem Platz. Viele Jungen besuchen die gleiche Oberschule in Grünau. Das Training mit United wirkt sich auch dort positiv aus. Anfangs, erzählt Philipp, habe er bei Spielen öfter mal auf den Platz laufen müssen, um zu schlichten. Einige Jungs lassen sich leicht provozieren. Das habe sich gelegt. „Wir haben schon viel erreicht“, sagt Philipp. Die Jungs sind konzentrierter und kommunikativer geworden. Nach Markkleeberg fährt die Mannschaft diszipliniert mit dem öffentlichen Bus.

Trotzdem bleibt es eine Truppe voller Diven. Das sagt Philipp selbst. Jeder Spieler braucht besondere Aufmerksamkeit. Wenn jemand mal beim Training fehlt, ruft Co-Trainer Didi auch bei den Jungen an. Der 16-jährige Mazedonier ist das Bindeglied zwischen Spielern und Betreuern. Einerseits kommunikativ sein, dann wieder konsequent – das ist nicht immer einfach. Umso zufriedener sind Philipp und Peter, wenn es gelingt. Einer ihrer Spieler ist zuvor aus zwei Vereinen herausgeflogen. Bei United übernimmt er mittlerweile auf und abseits des Platzes Verantwortung. Wenn Spieler dann, wie Daco und Stefan, der Mannschaft verloren gehen, ist das für United eben nicht nur spielerisch, sondern auch menschlich stets ein herber Verlust.

Dabei soll Leipzig United eigentlich nur ein Sprungbrett für die Spieler sein, um in anderen Leipziger Vereinen Fuß zu fassen. Doch die Integration ist schwerer als gedacht, berichtet Philipp. „Wir haben das anfangs etwas zu romantisch gesehen“, sagt er. Wenn in anderen Vereinen die Vertrauenspersonen fehlen, verlieren die Schützlinge schnell die Motivation. Darum wollen Peter und Philipp United auf mehr Schultern verteilen und auch Trainer aus anderen Vereinen für das Projekt gewinnen. Die Erfahrung zeigt, dass mehr Jungen am Ball bleiben, wenn sie der Trainer von United auch im neuen Verein begleitet. Mehrmals ist es ihnen so schon gelungen, andere Vereine mit Nachwuchs zu verstärken. Bestes Beispiel ist der SV Schleußig, wo mittlerweile neun Spieler von United kicken.

Die Multikulti-Mannschaft ganz verlassen wollen dennoch die wenigsten. Ein junger Mazedonier erzählt, dass er beim Training eines anderen Vereins keine Bälle zugespielt bekommen hat. Warum? „Weil ich Ausländer bin“, sagt er. Vielleicht aber auch, weil er den Ball, wenn er ihn mal hat, nicht so gerne wieder abgibt. Daran erinnert ihn jedenfalls Philipp vor dem Spiel gegen Markkleeberg. Der Coach erzählt, dass bei United jeder ein zweite, dritte und wenn nötig auch vierte Chance erhält. So erspielen sich die Betreuer Vertrauen. Zugleich geben sie klare Regeln vor. Wer sich nicht warm läuft, der steht nicht auf dem Platz. Wer nicht mannschaftsdienstlich spielt, wird ausgewechselt. Auch wer zu hart einsteigt oder meckert, riskiert auf die Bank zu müssen. Und spielen wollen sie alle.

Eigentlich sind viele Jungen im Team mittlerweile zu alt für United. Denn ursprünglich wollen Peter und Philipp nur Jungen bis zu einem Alter von zwölf Jahren trainieren. „Sie kommen sonst in die Pubertät, wo der Umgang dann noch sensibler wird“, erklärt Philipp. Doch weil die Mannschaft selbst nicht auseinander gehen will, bleiben auch die Betreuer. Sie spüren schließlich selbst am meisten, dass sie da etwas besonderes auf den Weg gebracht haben. Von einem jüngeren Spieler glaubt Philipp sogar, dass er Sprung zu RB Leipzig, Lok oder einem anderen höherklassigen Verein schaffen könnte.

Profifußballer wären sicher einige gern. „Wer zu RB will, der muss aber auch gut in der Schule sein“, sagt der Coach seinen Spielern dann. Der Profi-Verein lege nämlich genau wie sie viel Wert darauf, dass sich die Spieler auch abseits des Platzes weiterentwickeln. Peter und Philipps Herz schlägt hingegen für Lok Leipzig. Das Netzwerk blau gelb, der Verein hinter dem Projekt United, ist dann auch ursprünglich angetreten, um den Nachwuchs für den Lieblingsverein zu fördern. Mittlerweile engagieren sich dort aber auch Chemie-Fans, erzählt Philipp. Die Erwachsenen leben den Kindern so selbst vor, dass man miteinander immer mehr erreicht als gegeneinander. Gerade Lok stehen die engagierten Fans in Grünau gut zu Gesicht. In der Vergangenheit sind andere Anhänger des Vereins wiederholt durch Gewalt und Rassismus aufgefallen. Der Verein wird darum von einigen noch immer skeptisch beäugt. Aber Blau-gelb war, ist und wird eben nie Schwarz-weiß. United ist nur ein Beispiel vom Engagement der Lok-Fans gegen Gewalt und Rassismus.

Als Peter, gebürtiger Grünauer, und Philipp, ein Plagwitzer Original, in den Achtzigern in der DDR aufwachsen, ist Lokomotive Leipzig die erfolgreichste Mannschaft der Stadt und an RB Leipzig noch gar nicht zu denken. Als Leipziger fiebert man entweder mit Lok oder Chemie. Die Stadt ist eine andere damals. Von seinem Kinderzimmerfenster aus zählt Philipp in Plagwitz 18 rauchende Schornsteine. Die Luft im Leipziger Westen sei silbern gewesen und der Karl-Heine-Kanal glich farblich einem Regenbogen, erzählt er. Es sind Bilder aus einem anderen Land, einer weit entfernten Stadt. Vieles verändert sich in den vergangenen 25 Jahren. Gewinner werden zu Verlierern und umgekehrt. Plagwitz ist heute jung und hip, Grünau hingegen ein Problemfall.

Von den Trainingsbedingungen der Markkleeberger Kickers können die Jungs aus Grünau nur träumen. Mit großen Augen staunen sie über Kunstrasenplatz, Turnhalle und eine mehrere Meter lange Pokal-Vitrine. Im Freundschaftsspiel gegen United wird am Ende kein Pokal vergeben. Und wenn, dann wäre er auch nicht in Markkleeberg geblieben. Denn Jaja, Mahdi und die anderen siegen souverän „zehn zu funf“. Sie gewinnen aber nicht nur das Spiel, sondern auch viel Respekt und Sympathie. Sie holzen nicht, sie meckern nicht und spielen mit breiter Brust. Philipp nimmt sogar ein attraktives Angebot mit auf den Nachhauseweg. Sie könnten gerne in Markkleeberg mittrainieren, sei ihm gesagt worden. Es ist ein tolles Angebot. Aber woher das Geld für den Bus nehmen? Und dürfen überhaupt alle seiner Spieler regelmäßig nach Markkleeberg fahren? Für Ausländer gelte schließlich in Sachsen in den ersten Monaten noch immer die Residenzpflicht. Und Markkleeberg ist nicht Leipzig.

Zwanzig Minuten frieren die Kleinsten der Mannschaft nach dem Auswärtsspiel in Markkleeberg an einer Haltestelle, ehe schließlich der öffentliche Bus nach Grünau kommt. Der ausgeliehene Kleinbus ist den Älteren vorbehalten. Das ist kein böser Wille, erklärt Philipp, sondern eine pragmatische Entscheidung. Die Tickets für die Jüngeren im Nahverkehr sind eben billiger. In Grünau angekommen, bringen er und Peter auch die letzten mit dem ausgeliehenen Kleinbus nach Hause.

Am Ende eines langen Tages klingeln sie schließlich in einem Heim und geben dort einen ganz besonderen Jungen ab. Pascal sticht aus der Mannschaft heraus, weil er leiser und langsamer ist. Anders als viele seiner Mitspieler hat er keinen Migrationshintergrund. Für die anderen, die untereinander oft auch andere Sprachen sprechen, wäre es leicht, ihn das spüren zu lassen. Sie tun es aber nicht, denn sie sind ein Team. Gerade der am Donnerstag abgereiste Stefan habe sich sofort sehr rührend um Pascal gekümmert, erzählt Peter. Darauf legen sie Wert bei United. Die Jungen sollen nicht nur auf dem Platz Verständnis füreinander entwickeln. Dass die Mannschaft am Freitag gegen Markkleeberg gewonnen hat, freut Peter und Philipp. Pascal ist ein wichtigerer Sieg.

Alexander Kempf

Quelle:
www.weltnest.de


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Artikel der LVZ vom 28.01.2015: