Ihr Ruf ist so trist wie grauer Beton: In eine Plattenbausiedlung ziehe nur, so das Vorurteil, wer sich sonst nichts leisten kann. Doch die Riesen der Nachkriegsarchitektur haben alte Freunde – und finden zusehend neue. (DB MOBIL Ausgabe 12/2019 // dbmobil.de/hefte)
Bernd Puckelwaldt ist unzufrieden. Es regnet, und der Himmel hängt grau über Leipzig-Grünau. Dabei will er doch die schönen Seiten des Stadtteils zeigen, seines Grünaus. Dieser Ecke Leipzigs, in der er lebt, in die er vernarrt ist und die viele andere so gar nicht liebenswert finden. Er fährt durch die Straßen, vorüber an vielem, was er „geil“ findet. Puckelwaldt zeigt auf „Sahnestückchen“, auf graue, blaue, gelbe Fassaden. Ein paar Straßen weiter sieht es dagegen aus „wie bei Hempels unterm Sofa“.
Er erzählt vom Kunstgarten seines Freundes Fritze Hund und dem Baggersee in der Nähe. Fährt man mit Puckelwaldt durch Grünau, werden aus den anonymen, bis zu 16 Stockwerken hohen Wohnblöcken viele Leben. Etwa 40 000 Menschen wohnen in dem Stadtteil im Westen Leipzigs. Grünau ist eine der größten Plattenbausiedlungen Deutschlands.
Eine Wohnung in der Platte – für viele klingt das mehr nach einem Urteil als nach einem Zuhause. Großwohnsiedlungen fallen in ganz Deutschland vor allem durch negative Berichterstattung auf: als halb verfallene Horte von Armut und Kriminalität.
Auch an Grünau klebt der Ruf eines Ortes, an dem die Schicksale der Bewohner längst besiegelt wurden. Plattenbauten wie die in Grünau sind mit vielen Vorurteilen behaftet.
Manche von ihnen stimmen. Städte siedelten vor allem Arme in den Massenwohnungen an und vergaßen die soziale Durchmischung. Die aus Betonplatten zusammengesetzten Häuser sind mitunter seit Jahrzehnten nicht saniert worden. Doch so sieht es nicht überall aus. Es ist die fehlende Differenzierung, die sowohl Bewohner wie Bernd Puckelwaldt als auch Wissenschaftler stört.
Die Platte hat Fans, die sich für ihren Erhalt einsetzen. Einige entdecken ihre Vorteile gerade neu, andere leben schon ewig zwischen den Wänden aus vorgefertigten Bauelementen.
Bernd Puckelwaldt, 72, wohnt seit knapp 40 Jahren in Leipzig-Grünau: jahrelang in Plattenwohnungen, dann in einem Einfamilienhaus im Wohnkomplex 8. Bald wird er dort eine neue Wohnung beziehen, wieder mit Seeblick. „Das war das Geilste, was es in der ganzen DDR gab“, sagt Puckelwaldt. Damals, als die Altbauten in der Leipziger Innenstadt zerfielen, keine Heizungen hatten, dafür aber die Badezimmer in den Treppenhäusern.
Es waren zunächst pragmatische Gründe, die Puckelwaldt zum Liebhaber Grünaus machten: die gut geschnittenen Wohnungen, der Blick aus den oberen Stockwerken auf den nahe liegenden See, orientierten sich die Baumeister nach oben.
Für Tim Rieniets liegt die Schönheit der Nachkriegsbauten darum vor allem im gesellschaftlichen Auftrag der damaligen Architekten. „Ihnen wurde in der Zeit zugetraut, das Fundament einer neuen Gesellschaft zu errichten.“ Mehr als 40 Gebäude hat der Architekturprofessor 2018 als „Big Beautiful Buildings“ ausgezeichnet, so der Name eines Projekts, das die Initiative Stadtbaukultur NRW unter Rieniets’ Führung auf den Weg gebracht hat. „Die Gebäude werden nicht angemessen gewürdigt und gepflegt“, sagt Rieniets. Auch deshalb will er die Aufmerksamkeit auf sie lenken.
In Fachkreisen werden die Bauwerke der 50er-, 60er- und 70er-Jahre bereits ausführlich gewürdigt. „Aber die Fachkreise entscheiden nicht darüber, welches Gebäude saniert wird“, sagt Rieniets. Das entscheiden die Eigentümer.
In der Nachkriegszeit gab es viel experimentellen Wohnungsbau, Gebäude wie das Habiflex in Dorsten, in dem die Bewohner die Zimmerwände nach ihren eigenen Wünschen verschieben konnten. Mein Heim, mein Grundriss, sozusagen.
Nicht alle jener Gebäude seien schön, sagt Rieniets: „Wo Freiheit, da auch Fehlschläge“, und: „Beton altert nicht schön.“ Nach Jahrzehnten ohne richtige Pflege sei von der einstigen Pracht der Gebäude kaum noch etwas zu sehen. „Besonders die Bewohner freuen sich über die Auszeichnungen“, sagt Rieniets. Vielleicht, weil sie einmal nicht erklären müssen, warum sie gerne in ihrem Haus leben.
Gut 500 Kilometer entfernt sieht Martin Püschel von seinem Balkon aus die Kugel des Berliner Fernsehturms. Püschel steht für einen neuen Typus des Plattenliebhabers: den hippen Großstädter. Ihm geht es weniger um den demokratischen Gedanken, er feiert die Ästhetik der Platte. Püschel ist 38 Jahre alt und kommt aus einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern. „Die meiste Angst vor Ausländern haben Leute, die nie wegfahren.“ Ähnlich verhalte es sich mit der Platte. Die Skepsis ihr gegenüber sei am stärksten bei den Menschen, die noch nie einen Plattenbau von innen gesehen hätten.
Püschel ist ein Vorreiter, in seine erste Plattenwohnung zog er schon 1998. Seitdem ist er 14-mal umgezogen, davon zwölfmal in Platten. Um die Jahrtausendwende sei er damit noch ein Paradiesvogel gewesen, doch inzwischen schätzen immer mehr junge Berliner den Charme.
Püschel lebt nicht nur im Plattenbau, er hat auch ein „Plattenportal“ mit aufgebaut. Die Internetseite jeder-qm-du.de wurde 2011 von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM) gegründet, deren Wohnungen in Mitte und Friedrichshain zu 70 Prozent in Plattenbaukomplexen liegen. Die Seite will mit den Vorurteilen gegenüber dem Wohnen im Block aufräumen.
Durch Tipps von den Verwaltern war die Wohnungsbaugesellschaft darauf aufmerksam geworden, wie kreativ die Bewohner die Möglichkeiten der Platte inzwischen nutzen. In langen Galerien kann man sich durch Bilder aus Plattenwohnungen klicken. Sie zeigen Designermöbel vor unverputzten Betonwänden, Dielenböden, Kücheninseln in offenen Wohnküchen, für die Wände weichen mussten.
Die Platten in Mitte und Friedrichshain erreichen seit jeher die soziale Durchmischung, die sich Bewohner anderer Plattenviertel so sehr wünschen.
Püschel wohnt zwischen älteren Ehepaaren und Studenten-WGs. Ein Leben außerhalb der Platte kann er sich nicht mehr vorstellen.
Sigrun Kabisch, Professorin für Stadt- und Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, führt seit 1979 eine Langzeitstudie dazu durch, wie die Bewohner Grünaus ihre Wohnbedingungen bewerten. Dabei fand sie heraus: Nach einem drastischen Abfall in der Nachwendezeit ist die Zufriedenheit der Bewohner inzwischen wieder gestiegen: Bei der jüngsten Erhebung 2015 fühlten die Grünauer sich wieder so wohl wie in den Anfangsjahren.
Seit einigen Jahren ist Wohnungsnot eines der drängendsten sozialen Themen in deutschen Großstädten. Auch in Leipzig wird es immer schwieriger, eine Wohnung zu finden – und Grünau dadurch wieder interessant. Neubauten, Sanierungen und zusätzliche Infrastruktur locken
neue Bewohner an und lassen den Stadtteil im Ansehen seiner Bewohner steigen. Trotzdem sind die Mieten noch bezahlbar. Etwa zwei Drittel der Grünauer würden ihr Viertel einem guten Freund empfehlen. „In der öffentlichen Wahrnehmung wird das Plattenbauviertel viel zu stark nur mit sozialen Problemen verbunden“, sagt Kabisch. „Doch es existieren sehr unterschiedliche Gebiete in Grünau: viele mit einer hervorragenden Wohnqualität, in anderen konzentrieren sich die Probleme.“
Bernd Puckelwaldt und die anderen Anhänger der Platte werden darum weiter für ihre Viertel kämpfen. Sie alle fürchten, dass ohne eine differenzierte Betrachtung dieser prägende Baustil bald verschwinden könnte. Es wäre ein Verlust.
Denn manchmal sind die Dinge nicht schwarz oder weiß. Manchmal sind sie grau wie Beton.
Muriel Kalisch für DB MOBIL Ausgabe 12/2019 // dbmobil.de/hefte
Download: „BOCK AUF BLOCK – Was Plattenbauten eben doch lebenswert macht“
DBMOBIL-Heft 12/2019 (Seite 92)