Inklusion funktioniert überall: Das Leipziger Ferienspiel „Stadt in der Stadt“ fand vorige Woche nach intensiver Vorbereitung mit Kindern und vielen Freiwilligen in der Partnerstadt Addis Abeba statt. Eine spielerische Begegnung, von der beide Seiten etwas haben. (LVZ vom 11.02.2019)
Ein kleines Wäldchen spendet Schatten in der gleißenden Sonne. Die Zweige der Kiefern schlucken den Lärm der Fünf-Millionen-Metropole Addis Abeba, das Heulen der schweren Dieselmotoren, das Hupen der Taxis, das Kläffen der Straßenhunde. Die Stimmen von rund 100 Kindern, vergleichbar mit drei Schulklassen, verdichten sich zu einem gleichmäßigen Murmeln, wenn sie an verschiedenen Stationen Holz zusägen, eine Tischdecke sticken, Naturfarben herstellen.Es ist Ferienzeit für äthiopische Großstadtkinder, aber nicht nur das: Ferienzeit vor allem auch für Kinder mit Down-Syndrom, mit Sehbeeinträchtigung, mit Beinen, die das eigene Gewicht mit Mühe tragen, mit Körpern, die nicht wachsen wollen.
Zwei Jahre lang hat das Team vom Haus Steinstraße in Leipzig, dem sozio-kulturellen Zentrum, das inklusive Ferienspiel in der äthiopischen Hauptstadt vorbereitet. Es wurde die German Church School als Partnerschule gefunden und zwei Standorte auf je einem Collegecampus. Ein kleiner Testlauf fand in Addis Abeba vor einem Jahr statt. Äthiopische Fachleute in der Arbeit mit behinderten Kindern kamen danach im Sommer nach Leipzig, um sich im Grünauer Robert-Koch-Park die Leipziger Ausgabe von „Stadt in der Stadt“ anzusehen. Im November wurde in Addis Abeba in einem stundenlangen Brain Storming ein Plan für Organisation, Verpflegung, Material, Öffentlichkeitsarbeit, Personal erarbeitet. Das 250 000 Euro schwere Partnerschaftsprojekt, in dem „Stadt in der Stadt“ eines von vier Pilotprojekten ist, wird mit Fördermitteln von Engagement Global seit 2016 vom Referat Internationale Zusammenarbeit der Stadt Leipzig gemanagt (die LVZ berichtete).
Referentin Katja Roloff leitet daher die 15-köpfige Delegation, die zum Ferienspiel nach Addis Abeba reist. Einige, wie Angela Teubert vom Haus Steinstraße, arbeiten direkt an den Spielstationen mit. Gunther Jähnig, Geschäftsführer vom Behindertenverband Leipzig, begutachtet mit geschultem Auge die fast durchgängigen Leitsysteme auf den gepflasterten äthiopischen Fußwegen, aber auch plötzliche Abwasser-Schneisen, die selbst geübte Rollstuhlfahrer in Not bringen.
Doch wenn beim Ferienspiel das Mittagessen für die Kinder eine halbe Stunde zu spät kommt, liegt es nicht mehr in der Hand der Leipziger, daran etwas zu ändern. Sie haben nun das Privileg, zu beobachten, Erfahrungen zu sammeln, die sie selbst zu Hause anwenden können. Wie kreativ werden die Kinder in diesem freien Spiel, wie gehen sie mit dem Material um, der Laubsäge, dem Vorschlaghammer, den langen Holzlatten? Wie spielen sie miteinander, wie gehen Kinder ohne Behinderung mit denen mit Behinderung um?
Die Abschlussveranstaltung am Freitagnachmittag war ein gutes Beispiel, um die Atmosphäre des sommerlichen Ferienspiels in die Leipziger Winterlandschaft zu transportieren. Als nach dem offiziellen Programm die Musik weiterspielte, stürmten die Kinder die Bühne. Ein Junge mit Downsyndrom und ein Mädchen mit einer Gehbehinderung tanzten mitten in der fröhlichen Gruppe. Als Katja Roloff ein Foto des neuen, Demokratie-orientierten Ministerpräsidenten Abiy Achmed nach oben hielt, das sie geschenkt bekommen hatte, brandete im Publikum begeisterter Applaus auf. Blinde Mädchen und Jungen posierten trotz des holprigen Asphalts stolz auf einer Modenschau. Ein sehbehindertes Mädchen trug ein Gedicht vor.
„Wir sind durch dieses Projekt seit 2015 in kontinuierlichem Austausch mit einem gewachsenen Netzwerk an Partnern in Äthiopien“, sagte Katja Roloff. „Wir haben vieles gelernt: Es ist gut, jede große Zusammenarbeit mit kleineren Testläufen vorzubereiten, für die wir Mittel beantragen. Wir beziehen die äthiopischen Partner schon in der Konzipierung der Anträge ein.“ Auf der äthiopischen Seite beobachtete sie, dass die Ehrfurcht vor dem vermeintlich perfekten deutschen Partner in eine realistischere Einschätzung der deutschen Ansätze gerade in der inklusiven Bildung mündete. „Äthiopische Fachleute sehen ihre eigenen Errungenschaften jetzt mit mehr Selbstbewusstsein“, sagte sie.Etwa 50 Fachleute aus Schulen, den Stadtverwaltungen, der Sozialarbeit und den beteiligten Verbänden und Vereinen haben in drei Jahren an dem Austausch zwischen den Partnerstädten teilgenommen. „Wir mussten vieles erkämpfen, zum Beispiel, dass Teilnehmer mit Behinderung überhaupt ein Visum für Deutschland bekommen“, sagt Ulrike Bernard, Geschäftsführerin im Haus Steinstraße. Vier Pilotprojekte zeigen, dass Inklusion – die Vielfalt beteiligter Menschen mit unterschiedlichen körperlichen und geistigen Voraussetzungen, mit unterschiedlichem sozialen und kulturellen Hintergrund, mit unterschiedlichem Alter – machbar ist.
„Die Grundbedürfnisse sind überall die gleichen“, sagt Bernard: „Spielerisch und freiwillig zu lernen, sich gegenseitig zu respektieren, Neugier auf Neues und der Wunsch nach Inspiration.“ Unter diesen Voraussetzungen lassen sich Erfahrungen aus Leipzig nach Äthiopien übertragen, und Erfahrungen aus Äthiopien nach Leipzig.
Stephanie von Aretin
Quelle: Leipzig Volkszeitung vom 11.02.2019